Martina WEINDEL

ANMERKUNGEN
ZU BUSONIS ÄSTHETIK


ZEILE

554-656

573-76
Busonis Verständnis von einer organischen Interpretation zeichnet sich ebenso im Vorwort (1891 und Juli 1914) zu seiner zweiten instruktiven Ausgabe von Bachs Inventionen ab: »Den Studierenden würde ich davor warnen, meiner 'Interpretation' allzu buchstäblich nachzugehen. Der Augenblick und das Individuum haben hier ihre Rechte. Meine Auffassung mag als ein guter Wegweiser dienen, nach dem sich Einer nicht zu richten braucht, der einen anderen guten Weg kennt.«
591-97
Gemäss seines Interpretationsbegriffs ist Busoni die Einspielung von Schallplatten zuwider, da jeder Ton für »ewig stehen« bleibe und deshalb »Inspiration, Freiheit, Schwung und Poesie nicht zu Stande« kämen (vgl. Brief vom 20. November 1919 an seine Frau, BF, S. 364).
636-39
Siehe Kommentar zu Z. 336-37. Das Verständnis einer überzeitlichen Gültigkeit des musikalischen Gehaltes wird ebenso in einem Gespräch mit Gottfried Galston thematisiert: »[Galston:] 'Die anderen' [Komponisten] schreiben zwar viele Werke, aber sind diese nicht auch nur 'Variationen' über ein Thema [?]. Die Werke die Abwandlungen derselben. F[errucclo] B[usonl]: Gewiss. Ich [Galston]: Aber Beethoven hatte seine 'trois Styles'. FB: Auch die Stile sind Verkleidungen einer Idee. Der Stil meiner Jugendwerke ist ein Gesicht und beim Concerto [op. 39] kommt ein Neues: und bei der Berceuse [élégiaque] kam ein drittes. Und der 'Faust' vereinigt alles in sich« (zitiert nach Galstons Kalendereintrag vom 15. Juni 1924; GK, S. 141).
649-50
Siehe Kommentar zu Z. 40-47. Mit der Idee der Allgegenwart und Relativität von Zeit setzte sich Busoni wiederholt auseinander. An seine Frau schrieb er am 30. März 1911: »In, Waggon hatte ich viel Zeit zu denken und habe auch Manches gedacht. Ich glaube, ich bin weitergekommen. Besonders habe ich die Idee der Allgegenwart der Zeit fast erklärt - aber ich habe nicht gefunden, warum die Menschen die Zeit als einen Strich von rückwärts nach vorwärts begreifen, während sie nach allen Richtungen laufen muss, wie Alles im Weltsystem« (BF, S. 239). Seinem Brief vom 7. September 1912 an Egon Petri ist zu entnehmen: »Gesetzt der Allgegenwart der Zeit, (die schwerer zu leugnen als zu behaupten ist) so könnte ein besonders dazu befähigter Mensch in einem besonders hellseherischen Moment ein Individuum aus einer 'anderen' Zeit wahrnehmen; natürlich nicht als Gespenst, sondern wie der Augenblick das Individuum trifft« (BP, S. 188). Und am 26. Februar 1913 stellte er die Theorie auf: »Werin man 'Ahnungen' und 'Voraussehen' zugiebt, wenn man in die Zukunft schauen kann (wenn auch nur auf kleinste Augenblicke und kürzeste Strecken) so ist es logisch, dass man dieselbe Fähigkeit auch in die Zeit zurück hat; und das wäre doch endlich eine Erklärung für das sogenannte Gespenster-Sehen. Das Gespenstersehen wäre nichts anderes, als ein augenblickliches und unsicheres Schauen - - in die Vergangenheit. - Alles gestaltet sich in der Form des Kreises, und so muss es auch das 'Hellsehen'. Es ist wie bei einer Station des Marconi-Telegraphs, die nach allen Richtungen gleich weit reicht« (BF, S. 272f.). Im Hinblick auf die Affinität der Anschauungen bezüglich einer Allgegenwart und Relativität von Zeit ist anzunehmen, dass Busonis Zeit- und auch Musikverständnis in besonderem Masse von der Lektüre der Werke E.T.A. Hoffmanns bestimmt wurde, vor allem der Erzählungen "Die Automate" und "Der Dichter" und der Komponist aus dem vierbändigen Erzählzyklus "Die Seraplonsbrüder" (Berlin 1819-21). Einen Einfluss auf Busonis Zeitbegriff hatte sicherlich auch das 19. Kapitel der "Histoire Comique" (Paris 1903) von Anatole France (1844-1924), das Busoni in "Vom Wesen der Musik" (Juni 1924) verarbeitete (vgl. WE, S. 2-4, siehe dazu Kommentar zu Z. 941-4).
651-53
Die Ansicht, Beethovens Klavierkompositionen muteten wie Transkriptionen vom Orchester an, erscheint bereits in seinem Aufsatz "Etwas über Instrumentationslehre" (November 1905); vgl. VE, S. 74.