ERGÄNZTE UND KOMMENTIERTE
NEUAUSGABE VON MARTINA WEINDEL




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Zum Inhalt des Buches: 1907 ging Ferruccio Busonis zukunftsgerichteter »Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst« als das »Ergebnis von lange und langsam gereiften Überzeugungen« erstmals in den Druck. 1916 erschien eine zweite, erweiterte Edition der Schrift, die - auf konservativer Seite als »Futuristengefahr« mißdeutet - zur Kontroverse führte. In der vorliegenden Ausgabe werden zum ersten Mal beide Textfassungen des richtungsweisenden Werkes miteinander verglichen und kommentiert, darüber hinaus noch zusätzliche Textquellen berücksichtigt, die größtenteils für die zweite Auflage bestimmt waren, dort jedoch letzten Endes nicht aufgenommen wurden.

ISBN 3-7959-0793-4







ANTHOLOGIE


ZEILE 140-191, S. 13-14

ANMERKUNGEN

Frei ist die Tonkunst geboren und frei zu werden ihre Bestimmung. Sie wird der vollständigste aller Naturwiderscheine werden durch die Ungebundenheit ihrer Unmaterialität. Selbst das dichterische Wort steht ihr an Unkörperlichkeit nach; sie kann sich zusammenballen [Z. 145] und kann auseinanderfliessen, die regloseste Ruhe und das lebhafteste Stürmen sein; sie hat die höchsten Höhen, die Menschen wahrnehmbar sind - welche andere Kunst hat das?-, und ihre Empfindung trifft die menschliche Brust [150] mit jener Intensität, die vom »Begriffe« unabhängig ist.
Sie gibt ein Temperament wieder, ohne es zu beschreiben, mit der Beweglichkeit der Seele,
mit der Lebendigkeit der aufeinanderfolgenden [155] Momente; dort, wo der Maler oder der Bildhauer nur eine Seite oder einen Augenblick, eine »Situation« darstellen kann und der Dichter ein Temperament und dessen Regungen mühsam durch angereihte Worte mitteilt. [160]
Darum sind Darstellung und Beschreibung nicht das Wesen der Tonkunst; somit sprechen wir die Ablehnung der Programmusik aus und gelangen zu der Frage nach den Zielen der Tonkunst. [165]

Absolute Musik! Was die Gesetzgeber darunter meinen, ist vielleicht das Entfernteste vom Absoluten in der Musik. »Absolute Musik« ist ein Formenspiel ohne dichterisches Programm, wobei die Form die wichtigste Rolle [170] abgibt. Aber gerade die Form steht der absoluten Musik entgegengesetzt, die doch den göttlichen Vorzug erhielt zu schweben und von den Bedingungen der Materie frei zu sein. Auf dem Bilde endet die Darstellung eines [175] Sonnenunterganges mit dem Rahmen; die unbegrenzte Naturerscheinung erhält eine viereckige Abgrenzung; die einmal gewählte Zeichnung der Wolke steht für immer unveränderlich da. Die Musik kann sich erhellen, [180] sich verdunkeln, sich verschieben und endlich verhauchen wie die Himmelserscheinung selbst, und der Instinkt bestimmt den schaffenden Musiker, diejenigen Töne zu verwenden, die in dein Innern des Menschen auf dieselbe [185] Taste drücken und denselben Widerhall erwecken, wie die Vorgänge in der Natur.
Absolute Musik ist dagegen etwas ganz Nüchternes, welches an geordnet aufgestellte Notenpulte erinnert, an Verhältnis von Tonika [190] und Dominante, an Durchführungen und Kodas. [...]
TRADUZIONE


ZEILE 469-553, S. 24-26

ANMERKUNGEN

Immer wird das gesungene Wort auf der Bühne eine Konvention bleiben und ein Hindernis [470] für alle wahrhaftige Wirkung: aus diesem Konflikt mit Anstand hervorzugehen, wird eine Handlung, in welcher die Personen singend agieren, von Anfang an auf das Unglaubhafte, Unwahre, Unwahrscheinliche [475] gestellt sein müssen, auf dass eine Unmöglichkeit die andere stütze und so beide möglich und annehmbar werden.
Schon deshalb, und weil er von vornherein dieses wichtigste Prinzip ignoriert, sehe ich [480] den sogenannten italienischen Verismus für die musikalische Bühne als unhaltbar an.
Bei der Frage über die Zukunft der Oper ist es nötig, über diese andere Klarheit zu gewinnen: »An welchen Momenten ist die Musik [485] auf der Bühne unerlässlich?« Die präzise Antwort gibt diese Auskunft: »Bei Tänzen, bei Märschen, bei Liedern und - beim Eintreten des Übernatürlichen in die Handlung.«
Es ergibt sich demnach eine kommende [490] Möglichkeit in der Idee des übernatürlichen Stoffes. Und noch eine: in der des absoluten »Spieles«, des unterhaltenden Verkleidungstreibens, der Bühne als offenkundige und angesagte Verstellung, in der Idee des Scherzes [495] und der Unwirklichkeit als Gegensätze zum Ernste und zur Wahrhaftigkeit des Lebens. Dann ist es am rechten Platze, dass die Personen singend ihre Liebe beteuern und ihren Hass ausladen, und dass sie melodisch im Duell [500] fallen, dass sie bei pathetischen Explosionen auf hohen Tönen Fermaten aushalten; es ist dann am rechten Platze, dass sie sich absichtlich anders gebärden als im Leben, anstatt dass sie (wie in unseren Theatern und in der Oper zumal) unabsichtlich alles verkehrt machen.
Es sollte die Oper [505] des Übernatürlichen oder des Unnatürlichen, als der allein ihr natürlich zufallenden Region der Erscheinungen und der Empfindungen, sich bemächtigen und [510] dergestalt eine Scheinwelt schaffen, die das Leben entweder in einen Zauberspiegel oder einen Lachspiegel reflektiert; die bewusst das geben will, was in dem wirklichen Leben nicht zu finden ist. Der Zauberspiegel für die ernste [515] Oper, der Lachspiegel für die heitere. Und lasset Tanz und Maskenspiel und Spuk mit eingeflochten sein, auf dass der Zuschauer der anmutigen Lüge auf jedem Schritt gewahr bleibe und nicht sich ihr hingebe wie einem Erlebnis. [520]

So wie der Künstler, wo er rühren soll, nicht selber gerührt werden darf - soll er nicht die Herrschaft über seine Mittel im gegebenen Augenblicke einbüssen -, so darf auch der Zuschauer, will er die theatralische Wirkung [525] kosten, diese niemals für Wirklichkeit ansehe , soll nicht der künstlerische Genuss zur menschlichen Teilnahme herabsinken. Der Darsteller »spiele« - er erlebe nicht. Der Zuschauer bleibe ungläubig und dadurch [530] ungehindert im geistigen Empfangen und Feinschmecken.
Auf solche Voraussetzungen gestützt, liesse sich eine Zukunft für die Oper sehr wohl erwarten. Aber das erste und stärkste Hindernis, [535] fürchte ich, wird uns das Publikum selbst bereiten.
Es ist, wie mich dünkt, angesichts des Theaters durchaus kriminell veranlagt, und man kann vermuten, dass die meisten von der Bühne [540] ein starkes menschliches Erlebnis wohl deshalb fordern, weil ein solches ihren Durchschnittsexistenzen fehlt; und wohl auch deswegen, weil ihnen der Mut zu solchen Konflikten abgeht, nach welchen ihre Sehnsucht [545] verlangt. Und die Bühne spendet ihnen diese Konflikte, ohne die begleitenden Gefahren und die schlimmen Folgen, unkompromittierend, und vor allem: unanstrengend. Denn das weiss das Publikum nicht und mag [550] es nicht wissen, dass, um ein Kunstwerk zu empfangen, die halbe Arbeit an demselben vom Empfänger selbst verrichtet werden muss. TRADUZIONE


ZEILE 554-656, S. 26-30

ANMERKUNGEN

Der Vortrag in der Musik stammt aus jenen freien Höhen, aus welchen die Tonkunst [555] selbst herabstieg. Wo ihr droht, irdisch zu werden, hat er sie zu heben und ihr zu ihrem ursprünglichen »schwebenden« Zustand zu verhelfen.
Die Notation, die Aufschreibung, von Musikstücken [560] ist zuerst ein ingeniöser Behelf, eine Improvisation festzuhalten, um sie wiedererstehen zu lassen. Jene verhält sich aber zu dieser wie das Porträt zum lebendigen Modell. Der Vortragende hat die Starrheit der Zeichen [565] wieder aufzulösen und in Bewegung zu bringen. -
Die Gesetzgeber aber verlangen, dass der Vortragende die Starrheit der Zeichen wiedergebe, und erachten die Wiedergabe für um so vollkommener [570], je mehr sie sich an die Zeichen hält.
Was der Tonsetzer notgedrungen von seiner Inspiration durch die Zeichen einbüsst, das soll der Vortragende durch seine eigene wiederherstellen. [575]
Den Gesetzgebern sind die Zeichen selbst das Wichtigste, sie werden es ihnen mehr und mehr; die neue Tonkunst wird aus den alten Zeichen abgeleitet, - sie bedeuten nun die [580] Tonkunst selbst.
Läge es nun in der Macht der Gesetzgeber, so müsste ein und dasselbe Tonstück stets in ein und demselben Zeitmass erklingen, sooft, von wem und unter welchen Bedingungen es auch [585] gespielt würde.
Es ist aber nicht möglich, die schwebende expansive Natur des göttlichen Kindes widersetzt sich; sie fordert das Gegenteil. Jeder Tag beginnt anders als der vorige und doch immer mit einer Morgenröte. - Grosse Künstler spielen ihre eigenen Werke immer [590] wieder verschieden, gestalten sie im Augenblicke um, beschleunigen und halten zurück - wie sie es nicht in Zeichen umsetzen konnten - und immer [595] nach den gegebenen Verhältnissen jener »ewigen Harmonie«.
Da wird der Gesetzgeber unwillig und verweist den Schöpfer auf dessen eigene Zeichen. So, wie es heute steht, behält der Gesetzgeber [600] recht.

»Notation« (»Skription«) bringt mich auf Transkription: gegenwärtig ein recht missverstandener, fast schimpflicher Begriff. Die häufige Opposition, die ich mit »Transkriptionen« [605] erregte, und die Opposition, die oft unvernünftige Kritik in mir hervorrief, veranlassten mich zum Versuch, über diesen Punkt Klarheit zu gewinnen. Was ich endgültig darüber denke, ist: jede Notation ist schon Transkription [610] eines abstrakten Einfalls. Mit dem Augenblick, da die Feder sich seiner bemächtigt, verliert der Gedanke seine Originalgestalt. Die Absicht, den Einfall aufzuschreiben, bedingt schon die Wahl von Taktart und [615] Tonart. Form- und Klangmittel, für welche der Komponist sich entscheiden muss, bestimmen mehr und mehr den Weg und die Grenzen.
Es ist ähnlich wie mit dem Menschen. Nackt [620] und mit noch unbestimmbaren Neigungen geboren, entschliesst er sich oder wird er in einem gegebenen Augenblick zum Entschluss getrieben, eine Laufbahn zu wählen. Mag auch vom Einfall oder vom Menschen manches [625] Originale, das unverwüstlich ist, weiterbestehen: sie sind doch von dem Augenblick des Entschlusses an zum Typus einer Klasse herabgedrückt. Der Einfall wird zu einer Sonate oder einem Konzert, der Mensch zum [630] Soldaten oder Priester. Das ist ein Arrangement des Originals. Von dieser ersten zu einer zweiten Transkription ist der Schritt verhältnismäßig kurz und unwichtig. Doch wird im allgemeinen nur von der zweiten Aufhebens [635] gemacht. Dabei übersieht man, dass eine Transkription die Originalfassung nicht zerstört, also ein Verlust dieser durch jene nicht entsteht. -
Auch der Vortrag eines Werkes ist eine [640] Transkription, und auch dieser kann - er mag noch so frei sich gebärden - niemals das Original aus der Welt schaffen.
- Denn das musikalische Kunstwerk steht, vor seinem Ertönen und nachdem es [645] vorübergeklungen, ganz und unversehrt da. Es ist zugleich in und außer der Zeit, und sein Wesen ist es, das uns eine greifbare Vorstellung des sonst ungreifbaren Begriffes von der Idealität der Zeit geben kann. [650]
Im übrigen muten die meisten Klavierkompositionen Beethovens wie Transkriptionen vom Orchester an, die meisten Schumannschen Orchesterwerke wie Übertragungen vom Klavier - und sinds in gewisser Weise [655] auch. TRADUZIONE