CLAUDIA FELDHEGE

ARLECCHINO E DON GIOVANNI

Ferruccio Busoni als Librettist

[siehe W.U.M (= Wort und Musik) n. 29]

Verlag Ursula Müller-Speiser

Anif-Salzburg 1996

IBSN 3-85145-034-5

pp. 142-148

Hinter der Maske Arlecchinos verstattet Busoni es sich, Gedanken öffentlich vorzutragen, die er ansonsten nur im Freundeskreis auszusprechen wagte. (Auch das Busonische Eingeständnis, daß es sich bei den Worten Arlecchinos um seine «eigenen Bekenntnisse» handle, entstammt einem Privatbrief.) Ein Harlekin kann und darf alles, für ihn gibt es weder Grenze noch Gesetz (noch nicht einmal das, wonach ein Opernheld zu singen habe), und er darf Wahrheiten aussprechen ohne sich fragen zu müssen, «ob die Wahrheit nützt, ob sie Einem Verhängniss wird“. Busoni hingegen mußte sich dies durchaus fragen, umso mehr, als er - zumal als gebürtiger Italiener - es gewagt hatte, in einer Zeit, die "im Zeichen des Maulkorbes" stand, die Thematik von Krieg, Soldatentum und Vaterland in einer Weise zu diskutieren, die nicht nur in nationalistisch gesinnten Kreisen auf wenig Sympathie gestoßen sein dürfte.
Dies erklärt auch die von Busoni im nachhinein veröffentlichten Anleitungen zur Deutung seines Einakters, mit denen er die dem Text immanente Brisanz herunterzuspielen suchte und ihm lediglich «eine leichte Verspottung des Lebens» attestierte, gar von der «Anspruchslosigkeit» seines Werks sprach, um im gleichen Atemzuge dann doch zu betonen, daß es «ernst gemeint» sei.
Wie ernst es ihm mit seinen im Arlecchino eingestreuten «Bekenntnissen» jedoch tatsächlich war, erhellt vollstandig erst dessen zweiter Teil, in dem er mit der herrschenden, von ihm als scheinheilig entlarvten Moral noch weitaus härter ins Gericht geht und den er, entgegen ursprünglicher Absicht, aber aus naheliegenden Gründen unveröffentlicht ließ. Die Erfahrungen mit seinem Opern-Einakter hatten ihn offenbar gelehrt, daß man in Deutschland zum damaligen Zeitpunkt weder für gewisse «Wahrheiten», noch etwa für eine bestimmte Art von leise stichelnder Ironie empfänglich war. So finden sich unter den von Busoni in Arlecchinos Werdegang mitgeteilten Textpassagen, die seinen Angaben zufolge «der musikalischen Form» zum Opfer fielen, auch die nachfolgenden, dem Abbate zugedachten Verse:
«Etwas weiß ich immerhin.
Die Barbaren, oder Germanen,
Sind das Volk der Musik und der Philosophie.
Zwar reichen sie in der einen
Nicht an unseren erhabnen Alessandro Scarlatti,
Noch in der anderen an meinen göttlichen Plato.»


Vielleicht standen diese Verse tatsächlich der musikalischen Komposition im Wege, doch ist der Gedanke naheliegend, daß (auch) textimmanente Gründe Busoni zur Streichung dieser Passage veranlaßt haben könnten. Die feine Busonische Ironie, mit der er den dümmlichen Gemeinplatz, der den Deutschen die Herrschaft über Musik und Philosophie einräumt, zuerst benennt, um ihn sogleich als bloße Worthülse zu enttarnen und auf die großen Geister anderer Nationalitäten zu verweisen, wäre kaum verstanden worden, zumal gerade die These von der Vorherrschaft der Deutschen in geistigen Dingen bis auf den heutigen Tag in weiten Kreisen als unausrottbar sich erweist.

(Womöglich hätte sich sogar Busoni selbst den Vorvwurf nationalistischen Gedankenguts gefallen lassen müssen, da er es als Italiener gewagt hatte, einen Landsmann an die Spitze der Komponisten-Hierarchie zu setzen.) Mit seiner Gleichsetzung von «Barbaren» und «Germanen» schließlich hätte sich Busoni wissentlich Anfeindungen ausgesetzt, die zu ertragen er kaurn bereitgewesen sein dürfte. (Daß Busoni später, zur Zeit des Nationalsozialismus, ohnehin schlimmsten Anfeindungen ausgesetzt sein sollte, die sich, rassentheoretisch verbrärnt, auf die bei ihm diagnostizierte «Mischung des Blutes» gründeten, konnte er zu seinen Lebzeiten glocklicherweise noch nicht ahnen, wenngleich er durch gewisse Kritiker, die wie Pfitzner dem Ausländer Busoni eine «Verständnislosigkeit gegenüber dem deutschen in der Musik» attestieren zu müssen glaubten, sicherlich gewarnt war.)
Busoni mußte also durchaus abwägen, wie weit er mit seinen «Bekenntnissen» gehen durtte, bzw. inwieweit die Worte Arlecchinos allzu deutlich als seine eigenen identifizierbar sein könnten, und die Streichung des oben zitierten Textes - auch wenn sie wirklich aus rein musikalischen Rücksichten geschah - war in jedem Fall eine kluge Entscheidung, da man diese Worte allzu gern als private Äußerung Busonis genommen und den in Deutschland lebenden Ausländer, der es gewagt hatte, hehres deutsches Kulturgut ironisch in Frage zu stellen, der berühmt-berüchtigten 'Nestbeschmutzung' geziehen hätte.
Anders sieht es mit dem von Arlecchino im dritten «Satz» vorgetragenen Bekenntnis zur Treulosigkeit aus. Hier war eine Identifikation Busonis mit seinem Titelhelden für die Offentlichkeit nur schwer auszumachen, und sie ist es bis heute, da über einen (möglichen) 'ausschweifenden' Lebenswandel Busonis in der Literatur diskret hinweggegangen wird. Daß aber Busoni, wie Dent vermutet, insgeheim wünschte, eine seinem Arlecchino ähnliche Existenz zu führen, daß auch er sich gern über die Gesetze bürgerlicher Moral mit Leichtigkeit hinweggesetzt hätte, darf gewiß - wie billigerweise jedem der Konvention nicht eben zugetanen Individuum - unterstellt werden. Für einen Harlekin hingegen, der sich in einer Sphäre jenseits bürgerlicher Schwere bewegt, ist das Bekenntnis zur Untreue den Frauen gegenüber völlig normal, ebenso normal wie für eine andere zum stehenden Typus gewordene Figur, nämlich die des «Don Juan» bzw. des «Don Giovanni».
Auf einige, mehr oder weniger versteckte Anspielungen auf «Don Giovanni» im Rahmen des Busonischen Einakters ist bereits hingewiesen worden. Im dritten «Satz» nun, der Arlecchino «als Ehemann» zeigt, werden die Allusionen Busonis hinsichtlich des Mozart-Da Ponteschen «dramma giocoso» gleichsam Programm, und wenn gerade dieser Abschnitt eindeutig dem «giocoso» verpflichtet ist, liegt das nicht etwa darin begründet, daß Busoni die Tragik des Stoffes entgangen wäre. Vielmehr dürfte die hier beschworene Nähe zu Mozart als hommage an die von Busoni immer wieder gerühmte mozartische «Heiterkeit» zu verstehen sein, einer Heiterkeit zudem, die das Gegengewicht zum im zweiten Satz zwar kurzfristig, aber unaberhörbar angeschlagenen ernsten Ton darstellt. (Auch das «theatralische Capriccio» Busonis ist auf seine Art ein «dramma giocoso», mit dem Unterschied, daß sich die Szenen ernsten und komischen Inharts umgekehrt proportional zur Oper Mozarts verhalten.)
Die Szene stellt sich wie folgt dar: Arlecchino, nachdem er sich des Schneidermeisters glücklich entledigt hat, ist soeben im Begriff, dessen Haus und Gemahlin zu erobern, als sich ihm - in Gestalt seiner Ehefrau Colombina - ein neuerliches Hindernis in den Weg stellt. Colombina aber, da sie von hinten an ihn herantritt, erkennt den als Kriegskapitän Verkleideten zunächst nicht und spricht ihn mit den Worten an: «Herr Kapitän, ein verlassenes Weib sucht Euren Schntz». Diese Eingangsszene findet ihre Entsprechung unter umgekehrten Vorzeichen in der ersten Begegnung Don Giovannis mit Elvira. Dort ist es Don Giovanni, der die von ihm verlassene Geliebte - Da Ponte legt sogar nahe, daß es sich auch hier um ein Eheverhältnis, zumindest aber um ein Eheversprechen handelt - nicht sogleich erkennt und sich ihr nähert in dem Entschluß, die Einsame in ihrem Schmerz zu trösten. («Cerchiam di consolare il suo tormento».)
Daß dieser «Trost», den Don Giovanni zu spenden bereit ist, in der nämlichen Weise intendiert ist wie der vorgebliche «Schutz», den Colombina Arlecchino abfordert, wird in beiden Libretti gleichermaßen deutlich. Leporellos auf die «Register-Arie» verweisenden Worte: «Cosi ne consolò mille e ottocento» finden ihr Pendant in der ironischen Replik Arlecchinos: «Madame?! Was könnt' ich schützen, das Ihr nicht selbst zu schntzen wüßtet - -?»
Den Augenblick des Erkennens gestaltet Busoni sogar in nahezu vollkommener Ubereinstimmung mit dem Libretto Da Pontes. Die Anklage Colombinas:

«Ach! Da bist Du wieder,
Du Ungeheuer,
Du Abenteurer,
Du Lügensack»,

stellt die freie Ubersetzung der Worte dar, die Donna Elvira an Don Giovanni richtet: «Don Giovanni! Sei qui, mostro! fellon! nido d'inganni?» Was Colombina jedoch im Anschluß vorzubringen hat, sind nicht die begründeten, weil auf falschen Versprechungen und verletzter, wahrhafter Liebe beruhenden Vorwürfe einer Donna Elvira, sondern die unbegründeten Anschuldigungen eines keifenden Eheweibs, das sich eben noch einem wildfremden «Kriegskapitän» an den Hals werfen wollte und nun, da sie sich dieser Möglichkeit beraubt sieht, zumindest den eigenen Ehemann wieder für sich gewinnen will.
Ihrer hysterisch vorgetragenen, bis zum fortissimo sich steigernden Tirade, die, nachdem ihr die Worte ausgehen, in einem in der komponierten Version geradezu endlos wiederholten, kindisch-grotesken Gestammel kulminiert:

«Ja, Du betrügst, betrügst, betrügst,
Immer, immer,
Und - vor andren - betrügst Du mich!!

weiß Arlecchino, einen Gedanken Don Giovannis («Chi a una sola è fedele / verso l'altre e crudele.») frei paraphrasierend (der zugleich auch ein Gedanke Nietzsches ist), mit Don Juanesker Nonchalance zu begegnen: «Die Treue, - Madame! -, ist ein Laster, das meiner Ehrsamkeit nicht ansteht. Sie ist

Der Beinbruch nach dem ersten Schrin.
Das Unrecht, an drinen begangen.
Die Untreue gegen sich selber.
Ein moralischer Bankeron und
Das Ende der Liebe. Sie ist
Der Bogen, der nur einen Pfeil abschießt.
Das Schiff, das nur an einer Küste anlegt.
Die Sonne, die nur einen Stern bescheint.»

Arlecchino vertritt die Lebensauflassung Don Giovannis, gibt dies aber - und das ist ein entscheidender Unterschied zu Don Giovanni, der derlei Geständnisse nur seinem Diener Leporello anvertraut - offen zu. Anders als sein Vorbild ist er «skrupellos, doch aufrichtig, ein Betrüger mit offenen Karten». Gegen das «trefflich gebaute Textbuch» Da Pontes hane Busoni den Einwand erhoben, «daß der Held nicht sieghaft genug dargestellt ist, daß seine galanten Erfolge in dem Stück nicht eben brilliant sind, daß er überdies mehr geschmeidig als dämonisch geraten ist.» Diesen 'Fehler' hat Busoni bei seiner Ausformung des Don Juan-Typus behoben.
Arlecchino wird am Ende «als Sieger» vom Platz gehen, und dies nicht nur aufgrund seiner Eroberung Annunziatas, sondern weil er, anders als der «geschmeidige» Don Giovanni, seine Angelegenheiten als «grader Mann» bestreitet. Mit seiner aus bürgerlicher Sicht geradezu infamen Kritik der Treue als «moralischer Bankerott» weist Arlecchino sich erneut als Kenner und Anhänger Nietzsches aus, bei dem es heißt: «Moral ist heute in Europa Heerdenthier-Moral: - also nur, wie wir die Dinge verstehn, Eine Art von menschlicher Moral, neben der, vor der, nach der viele andere, vor Allem höhere Moralen möglich sind oder sein sollten. Gegen eine solche 'Möglichkeit', gegen ein solches 'Sollte' wehrt sich aber diese Moral mit allen Kräften: sie sagt hartnäckig und unerbittlich 'ich bin die Moral selbst und Nichts ausserdem ist Moral!»