Kent Nagano
Chefdirigent und Künstlerischer Leiter
Im Dezember 2000 - zur Halbzeit seiner ersten Saison als Chefdirigent
und Künstlerischer Leiter beim Deutschen Symphonie-Orchester
Berlin - wurde Kent Nagano vom »Musical America
Directory«, dem Almanach internationaler Konzertveranstalter,
zum »Conductor of the Year 2001« gewählt. In der
Laudatio heißt es: »... curious, flexible, questing,
practical, a product and student of many traditions Kent Nagano is
that most enigmatic of visionary conductors ...« - eine
Einschätzung, die im Frühjahr 2001 mit der Verleihung des
Grammy, dem weltweit bekanntesten Musikpreis, an Kent Nagano für
die beste Opernaufnahme des Jahres 2000 eindrücklich
bestätigt wurde.
Mit der Saison 2001|02 geht Kent Nagano in seine zweite Spielzeit beim
Deutschen Symphonie-Orchester Berlin. Vieles hat sich in der
vergangenen, seiner ersten Saison gewandelt. Eindrucksvoll vollzog er
- feuilletonistisch formuliert - den Weg aus der
»Repertoire-Routine eines bloßen Beethoven plus
Brahms« in die Moderne: Von »Sensationen in der Berliner
Philharmonie« war zu lesen, von der »Revolution des
Konzerts«, vom »Dirigenten des 21. Jahrhunderts« und
von »kristalliner Präzision und nie nachlassender
Vehemenz«. Kent Nagano hat innerhalb weniger Monate den Stil des
Orchesters gewandelt, ohne dabei seine Tradition zu gefährden:
»Das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin, das kurz nach dem
Krieg gegründet wurde, hat« - so seine Darstellung -
»eine einzigartige Tradition. Es besaß immer ein deutlich
internationales Profil und wirkte trotzdem auch immer
herausfordernd. Das heutige Orchester hat noch Mitglieder, die unter
Ferenc Fricsay gespielt haben, und natürlich auch unter Lorin
Maazel, Riccardo Chailly und Vladimir Ashkenazy. Die Tradition ist
also noch lebendig und verlangt danach gepflegt zu werden;
respektiert, aber auch weiterentwickelt.«
Kent Nagano ist ein moderner Musiker. Ihn reizt
»klassische« Musik insbesondere vor dem Hintergrund, dass
sie den Menschen von heute anspricht, also gewissermaßen
»moderne« Musik ist. In diesem Verständnis zeigt er
Musik in einer Vielfalt, die für das Deutsche Symphonie-Orchester
Berlin jedes Werk zum neuen Prüfstein macht. Unter Kent Naganos
Stabführung gibt es demnach nicht »die« Musik,
sondern nur Musiken: epochal und stilistisch unterschiedliche
Sprechweisen. Der Satz »so ist« scheidet für Naganos
Interpretationen aus. Vielmehr gilt für ihn ein »so
sind«, d. h. es ist ihm ein Bedürfnis, den Musikern die
vielen Sprachen der musikalischen Stile zu verdeutlichen. Im selben
Maße will er auch die Bildung des Hörers zum
Verständnis dieser Sprachen erreichen: »Die großen
Werke bleiben immer zeitgenössisch, sie sprechen zu uns Menschen
von heute. Das liegt ganz in der Verantwortung von uns
Interpreten. Wenn sich im Konzertsaal Routine breit macht, gibt es
ernsthafte Probleme. Routine tötet jeden künstlerischen
Ausdruck ab. Das Publikum spürt das instinktiv - man kann den
Zuhörern da immer vertrauen.« Dem Zug der Zeit, in der
Musik nicht selten zum Ornament verkommt, setzt Kent Nagano das Ideal
der Musik als Grundpfeiler unserer Kultur entgegen: »Die enormen
technologischen Fortschritte und die rasanten Entwicklungen des
Informationszeitalters mit ihrer Computertechnologie machen es
wichtiger denn je, dass live aufgeführte Musik generell eine
Rolle spielt. Gerade jetzt, wo uns Technologie überall umgibt und
alle Aspekte unseres Lebens bestimmt, sind wir auf recht
unnatürliche Art aus der Balance geraten. In den abstrakten
Formen der Kunst kann der Mensch sich noch wirklich ausdrücken
und damit das Leben lebenswert machen.«
Dirigentische Interpretation bedeutet für Kent Nagano neben allen
ästhetischen Erwägungen in unterschiedlicher Abstufung
Befreiung, Differenzierung und Verdeutlichung. Die Befreiung richtet
sich gegen die Vereinnahmungen von Kompositionen durch bestimmte
Spieltraditionen; die Differenzierung erfolgt durch Einbeziehung
zeitgemäßer Aufführungspraktiken in die klanglichen
Möglichkeiten heutiger Orchester; und die Verdeutlichung steht
für die Darstellung des musikalisch Gemeinten als oberste
Leitmaxime. Nicht selten ist man als Zuhörer der Konzerte Kent
Naganos und des Deutschen Symphonie-Orchester Berlin geneigt, eine
Beschreibung des Dirigenten Gustav Mahlers zum Vergleich zu ziehen,
für den »Deutlichkeit ein genaues Verhältnis von Licht
und Schatten darstellte. Seine Crescendi, seine Stürme, die von
Takt zu Takt wuchsen, einen Augenblick Atem holten, und dann mit der
stärksten Wucht niedersausten, seine Steigerungen mit den
einfachsten Mitteln erreicht, sein flüsterndes Pianissimo, sein
Sinn für die Schärfe der melodischen Linie, das alles waren
gleichsam erkennbare Teile seiner Kraft.«
Unser Musikleben steht vor großen Herausforderungen: Zwar gibt
es Opernhäuser, Symphonieorchester und Konzertsäle, also ein
reiches Angebot für das Publikum, aber die vielerorts erklingende
Musik wendet sich oft nur ans Gemüt, erscheint oft nur in ihrem
emotionalen Gewand. Der kulturgeschichtliche Inhalt wird viel zu
selten reflektiert. Kent Nagano tritt diesem Umstand seit Beginn
seiner Karriere entschieden entgegen. Seine Konzerte wollen Musik als
Kultur- nicht als Konsumgut vermitteln, gleichzeitig aber auch die
Lust an der Auseinandersetzung mit künstlerischen Inhalten
schüren. Wie sehr er sich dabei musikalischen Idealen
verpflichtet fühlt, beschreibt das Musical America Directory -
und bringt damit eine der Grunderfahrungen der MusikerInnen des
Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin auf den Punkt: »He is the
master of the long, sensuous, lyric line; he is also the master of the
exciting, incisive, hard-edged percussive attack. He is soft-spoken;
yet he is a fiercely tenacious advocate of the 20th-century composers.
Thomas Schmidt-Ott