Hans Heinz Stuckenschmidt


Die «Brautwahl» [...] steht am Anfang seiner Opern. Ihr Text ist Busonis eigene Arbeit und stützt sich auf die gleichnamige Novelle von E. T. A. Hoffmann. Der grösste Phantast unter den frühen Dichtern der deutschen Romantik war sein Lieblingsautor von Jugend auf. Ja, um Busoni und seinen Freundeskreis war etwas von der unheimlichen und doch nie einschüchternden Bizarrerie einer Hoffmann-Erzählung. Kein Zweifel, dass Busoni die Stadt Berlin, die er neunzehnjährig zum erstenmal besuchte, aus Hoffmanns Schilderungen kannte. Er sah sie wohl auch später nie anders als in diesem seltsam hoffmannschen Zwielicht von preussisch-nüchterner Geschäftigkeit und leicht alkoholischem Geisterspuk. Auch die «Brautwahl» spielt in Berlin. Ihr Lihretto wird in einem Brief an Gerda schon im Februar 1906 als «vollständig redigiert» bezeichnet. Im Juni desselben Jahres schreibt Busoni, es sei bis auf die letzte Szene mit dem dritten Kästchen fertig. Ein Jahr danach, am I7.Juli 1907, kann er die Beendigung des ersten Aktes melden, sechs Tage darauf ist der erste Abschnitt des zweiten Aktes fertig, wieder ein Jahr danach heisst es aus Wien, er arbeite an dem «Liebesduettchen».
Die Arbeit ist also immer wieder durch andere Tätigkeiten unterbrochen, lässt aber Busoni nicht los, zieht sich durch die Jahre von 1906 bis zur endlichen Hamburger Uraufführung 1912 hin, teilt sich oft in Skizzierung und Partiturform, weckt immer neue Gedanken über die problematische Gattung des musikalischen Dramas, erfüllt ihren Schöpfer mit vielerlei Hoffnungen, von denen sich keine recht erfüllen sollte.
Die Handlung des Stücks verläuft in zwei Schichten, einer realen und einer gespenstig-irrealen. Da ist das Bürgeridyll des zu Geld gekommenen Kommissionsrates Voswinkel, der seine schöne, kluge und musische Tochter Albertine dem Schulfreund und alten Junggesellen Geheimrat Thusman verspricht, weil diesen der Johannistrieb aus seiner Bücherwelt vertrieben hat. In Albertine, «Tinchen», aber hat sich ein Mann ganz anderer Art, einjunger Maler namens Edmund Lehsen, verliebt. Lehsen ist ein Anagramm von Hensel, dem Maler, den Felix Mendelssohns Schwester Fanny zum Manne nahm und dessen Bild Busoni in seinem Lihretto konterfeit. Wir sind im berlinischen Biedermeier. Es ist 1820. Die erste Begegnung Voswinkels mit Lehsen findet in den Zelten am Rande des Tiergartens statt. Das waren Gartenlokale, in denen man sommers im Freien Weissbier trank und sonntags Musik hörte; sie haben bis zum zweiten Weltkrieg noch bestanden. Busoni hat die Stimmung aus Biedermeier, Blasmusik und Tabakrauch erstaunlich sicher getroffen. Die erste Szene gehört zu den glänzendsten Schilderungen berlinischen Milieus, die man auf der Bühne antreffen kann. Sie ist so zärtlich ins Detail verliebt und dabei den grossen Bogen nicht missend wie dreissig Jahre zuvor im pariserischen Milieu Auguste Renoirs «Moulin de la Galette».
Busoni setzt sofort seine Opernästhetik in Wirklichkeit um, wo es heisst, dass neben dem Ubernatürlichen vor allem Tanz und Marsch der Musik bedürfen. Die Blaskapelle, unentbehrlicher Bestandteil der«Zelte», spielt gute, populäre Musik. Zuerst den Marsch aus Rossinis «Moses», dann ein kleines Komprimat aus Mozarts Deutschen Tänzen, K.V. 600 und 602, F-Dur, D-Dur und A-Dur, wobei der Kommissionsrat sich aus dem gut gefüllten Zigarrenetui des Malers bedient und dazu bemerkt, Albertine verstehe sich auf Malerei, und auch er liebe die Kunst. Und dabei ist es geschehen, der Blitzschlag heftiger Liebe hat den Maler getroffen, und gleich wenn der Alte sich mit Bekannten unterhält, vereinigen sich die beiden jungen Menschen im Duett-Lied, das«lässig und schwärmerisch, ein wenig schleppend» zu einem Gedicht Friedrich de la Motte Fouqués eine Barkarole von seltsam irisierender Tonalität setzt. Das Lied ist, wie Busoni an Frau Gerda geschrieben hat, Kern der Szene. Marsch und Tanz geben ihr den Rahmen, und bald wird das Kleeblatt, werden der Kommissionsrat, seine Tochter und der junge Maler zu den Rossinischen Marschklängen heimgehen.
Dies also ist die reale Schicht, die Ebene des Bürgerlichen, auf der ein Teil der dicht gewobenen Handlung sich abspielt. Auf der Szene steht wie hergezaubert ein Mann, schön und edel anzusehen, mit Kennzeichen einer längst vergangenen Zeit. Es ist der Goldschmied Leonhard, der seit 300 Jahren nicht sterben kann, guter Geist und Beschützer der Künste, Pate des Malers, sozusagen ein Vertreter der weissen Magie, des segnenden Zaubers. Bald wird er in der Weinstube dem Manne gegenüber sitzen, der das Gegenteil verkörpert, dem alten Manasse, der einst als Hof- und Münzjude Lippold in Berlin hingerichtet wurde und seither als Gespenst umgeht. Zwei Geister ahasverischer Art im Kampfe, Leute, die mehr können als nur arbeiten und Wein trinken. Sie sind Ungestorbene, nicht anders als Heines und Wagners Fliegender Holländer, als Shaws Methusalem, als Karel Apeks Elina Makropulos, die 327 Jahre alt unter dem Namen Emilia Marty weiterlebt.
Neben den beiden Geistern sitzt noch ein dritter Mann, der Geheime Kanzleisekretär Thusman, eben jener Schulkamerad von Albertinens Vater. Leonhard hat beschlossen, dass er das Mädchen nicht kriegen darf, weil Edmund es kriegen soll. Die beiden Gespenster fangen an zu zaubern. Leonhards Gesicht wird zur Fuchsschnauze, Manasse lässt Rettichscheiben zu Dukaten werden, die an Leonhards Hand in Funken zerstieben. Es gibt aber noch einen dritten Bewerber um Albertines Hand, denjungen Millionär Benjamin, der es als Neffe Manasses zum österreichischen Baron Bensch gebracht hat. Während Manasse für seinen Neffen wirbt, sitzt Albertine am Spinett und begleitet sich zu der Melodie des Fouqué-Liedes, bis der Maler erscheint und in das schwärmerische Stück einstimmt. Bei ihrer Umarmung tritt Thusman ein und sucht gegen den Maler ältere Rechte auszuspielen. Empört bemalt Edmund das Gesicht des Alten mit grüner Ölfarbe und stösst ihn zur Tür, wo der Kommissionsrat steht. Auch Leonhard erscheint plötzlich, und die fünf singen im Quintett, in das unversehens Manasse mit dem Baron Bensch hereinplatzt. Der junge Millionär verlangt einen Kuss von Albertine, und alle geraten in Harnisch. Leonhard greift mit einem Zaubertrick ein, und die Szene endet mit einem Fluch des alten Manasse. Musikalisch zeigt dieses spukhafte Bild ein Finale von phantastischem Charakter, würdig des Dichters, der es angeregt hat.
Das Vorspiel zum dritten Akt ist ein Posthorn-Solo, hinter dem Vorhang geblasen, mit der Vortragsbezeichnung: «nach deutscher Art, etwas schmachtend, im ührigen frei». Das nächtliche Bild spielt am Froschteich im Tiergarten. Thusman ist wegen seines grünen Gesichts in Selbstmordstimmung. Der allgegenwärtige Leonhard befreit ihn von dem lästigen Anstrich, warnt ihn aber, Albertine nachzustellen, wenn er nicht ganz zum Frosch werden wolle. Die Handlung endet mit der Kästchenszene. Leonhard schlägt vor, dass die Freier drei Kästchen wählen sollen, von denen eines Albertines Bild enthalten werde. Mit diesem Gottesurteil, frei nach Shakespeares «Kaufmann von Venedig», endet die «Brautwahl». Natürlich hat Leonhard dafür gesorgt, dass der Maler das Spiel gewinnt.
Der jüdische Geist ist für das biedermeierliche Berlin, in dem die Brautwahl «spielt», so kennzeichnend, dass Busoni schwer auf ihn verzichten konnte. Eine Stadt und eine Zeit, in der die Mendelssohns und Meyerbeers wichtige Träger der deutsch-romantischen Musikkultur waren, in der Rahel Varnhagen einen literarischen Salon unterhielt, in der Heine gelebt hat und der Kommissionsrat Friedrich Cerf das erste private Opernhaus mit königlicher Konzession zu einer ernsten Konkurrenz der Hofbühne machte - sie hatte jüdisches Wesen ebenso integriert wie einst hugenottisches.
Für Busoni war dasjüdische Element obendrein eine Art exotischer Lokalfarbe. Der ganze zweite Teil des ersten Aktes zeugt davon, beginnend mit dem Orchesterzwischenspiel, das Manasses Namen trägt und die Vortragsbezeichnung «Andante sostenuto in modo giudaico», sich steigernd in der Erzählung Leonhards vom Münzjuden Lippold. Busoni verwendet hier nicht nur orientalisch-hebräische Wendungen und Tonleitern mit dem übermässigen Sekundenschritt, klagende und chromatisch sich schleppende Wendungen, grelle Aufschreie des Orchesters in der Art der streitendenJuden in Mussorgskijs «Bildern einer Ausstellung», er zitiert sogar liturgische Melodien bis zu einer Variante des Kol Nidre.
Auch sonst fehlt es in der ungemein farbigen Partitur nicht an ausgefallenen Koloriten. Der Kommissionsrat mit seinen weltweiten Geschäftsverbindungen kennt sich in allerlei fremden Kulturen aus. Er singt von den «Negros, die sich plagen in Plantagen bei exotischen Allegros», imitiert dabei einen Banjospieler und jubelt die Worte «Hiawatha, Manahatta, Appalacco und Tobacco», wobei eine pentatonische Melodie in Variationen ertönt.
Auch Busonis Dur- und Moll-Deutung («dasselbe Gesicht, jeweils heiterer und ernster») findet im Duott der «Brautwahl» eine überzeugende Illustration. Die in ungleichen Stufen sich aufschwingende Melodie Edmunds zu den Worten:

«Säng' ich es nach,
was leise solch stilles Leben spricht»

zeigt in ihrer ersten Phase die beiden grossen steigenden Sexten, durch die aus Moll Dur wird, und unmittelbar daraufin der zweiten Wendung die kleinen Sexten, durch die Dur sich nach Moll zurückwendet. Dabei verlegen sich aber auch die tonalen Schwerpunkte, und zwar im Abstand kleiner Terzen, so dass der Eindruck vierfacher Tonalität entsteht. Solche tonal mehrdeutigen Komplexe kennen wir vom frühen Bartok und späten Skrjabin. Wir finden ihre systematische Untersuchung und Einordnung in die sogenannten «begrenzt transponierbaren Modi» 40 Jahre später bei Olivier Messiaen.

Dennoch ist die «Brautwahl»-Musik eher auf Vergangenheit als auf Gegenwart gerichtet. Sie geht von Dreiklang und Kadenz aus und bevorzugt in Melodik und Form die einfachen Perioden. Doch auf die vertrauten Konturen fällt immer wieder ein merkwürdiges Zwielicht, in dem auch die harmloseste Wendung einen neuen, oft phantastischen Schimmer ausstrahlt. Schon die Ouvertüre, die so mozartisch leicht mit den raschen, zerlegten Dreiklangbässen anhebt, entschwebt wie unversehens in fremde Harmonien und Dreiklangsfolgen. Wenn Busoni gar das Ubernatürliche schildern will, gerät er bald in tonartfreie Gefilde. So bei Leonhards Drohung gegen Thusman: «Dürfte sonst Euch schlecht geraten, diese Nacht des Äquinoktiums» mit der ganztönigen Gegenbewegung in hohen Akkorden und tiefen Bässen. Einen Höhepunkt erotischer Entzückung, wie die Umarmung der Liebenden, begleitet er mit einer funktionslosen Reihe von Quartenakkorden. Diese kehren am Schluss wieder, wenn Edmund das rechte Kästchen gewählt hat und die beiden Brautleute sich endgültig in die Arme fallen. Ein besonders geistreicher Einfall steht in der nächtlichen Szene am Tiergartenteich, wo Busoni den Froschlaich mit gehäuften Sekunden schildert, also das Mittel anwendet, das Henry Cowell später tone-clusters nannte und was wir heute Tontrauben nennen.
Das Neuartige an dem Werk ist paradoxerweise eine Rückwendung zur Vergangenheit der Oper. Busoni erhärtet seine polemische Haltung gegen Wagners Prinzip des Durchkomponierens durch eine strenge Einteilung in Nummern, in abgeschlossene und häufig auch mit Titeln gekennzeichnete Musikstücke. In diesem Sinne greift die «Brautwahl» dem späteren «Doktor Faust» voraus, ja sie wendet viel früher Alban Bergs Bauprinzipien des «Wozzeck» und Hindemiths Formkonzeption des «Cardillac» schöpferisch an.
Formen solcher Art sind die Vorspiele, das Allegro zu Beginn, der Spuk- und Wirbelwalzer vor dem ersten Akt, das kurze Bratschen-Solo vor dessen zweitem Bild, das Posthorn vor dem dritten Akt, die stürmisch-zornige Einleitung des letzten Bildes und das kurze, trockene Vorspiel zum Epilog; lauter symphonische Stücke ganz verschiedenen Charakters und Umfangs. Dazu die bizarre Verwandlungsmusik nach der Zelten-Szene, das grosse Manasse-Zwischenspiel. Ferner die balladesken Nummern, die Erzählungen, das Duett und schliesslich die viel umstrittene Kirchenszene, für die Busoni eine neue, passacagliaartige Form entwickelt. Weiter die Tänze, in die immer wieder der Musikstrom mündet, Walzer aller Arten, ein Menuett, das Tempo di polacca am Froschteich, der Galopp bei der Spukszene, wenn Bensch und Thusman über die Bühne schweben. Und endlich die rein vokalen Formen, oft Teile von gross angelegten Finali; Duette, Quintette und das abschliessende Scherzo zu viert.
Als Schwächen der Partitur wurden immer wieder eine gewisse Hypertrophie der Orchesterbehandlung und eine Überfülle sich gegenseitig bedrängender Einfälle bemängelt. Kein Zweifel, dass die deutsche Neigung zum Kontrapunkt, von der Richard Strauss im Vorwort zu seinem «Intermezzo» spricht, auch in der «Brautwahl» spürbar ist.
Die musikalischen Schwierigkeiten, die dem Verständnis des Werks 1911 entgegentrafen, bestehen für heutige Ohren nicht mehr. Dafür hat die Musik ihre eigentümliche Jugendfrische unverändert bewahrt. Ihr Kennzeichen ist eine ganz merkwürdig trockene Wärme, ein Hauch von südlichem Klima und lateinischer Geistigkeit, die doch in jedem Augenblick den romantischen Unterton spüren lässt. Busonis verblüffendes Können in allen Dingen der Komposition und der Orchesterbehandlung waren von jeher unbestritten. Wie aber stand es um seine Kenntnis der menschlichen Stimme? Der weitaus überwiegende Teil seines Schaffens ist instrumental. Von seinen vielen Aufsätzen über Musik behandelt keiner vokale Fragen.
Dennoch war Busoni imstande, für Stimmen zu denken wie nur Rossini und Verdi oder Mozart. So ist jede seiner Opernpartien aus dem Geist des Gesangs erfunden. Ja, sie verkörpern jeweils ganz unverkennbar das Fach, dem sie angehören, den Bassbuffo wie den Heldentenor, den lyrischen Sopran wie die Koloratursouhrette. Man muss Busonis Faust von Dietrich Fischer-Dieskau gehört haben, um zu wissen, wie sehr diese Figur aus dem Geist des dramatischen Gesangsvortrags erfunden ist.
Viele seiner Operngestalten zeigen Verwandtschaft mit denen Mozarts. So ist auf den Mohren Monostatos aus der «Zauberflöte» als das Modell des Thusman hingewiesen worden oder auf die Verwandtschaft Albertines mit Pamina. Doch auch zu Wagner führen Verbindungsfäden, und Thusman hat neben Zügen des Monostatos auch solche des Beckmesser, wie andererseits Leonhard eine leichte Familienverwandtschaft mit dem Hans Sachs aus den «Meistersingern» zeigt.
Das ganz Eigene, unverkennbar Busonische aber liegt in der Spuk- und Zauber-Atmosphäre, die er reiner dargestellt hat als selbst Offenbach in den verwandten Szenen von «Hoffmanns Erzählungen». Busonis Kunst ist frei von Derbheit, Kraftmeierei und Vulgarität. Auch wo sie lebensnahe Dinge darstellt, wie in manchen Szenen der «Brautwahl», tut sie es mit einergewählten, kultivierten, geschliffenen Sprache, in die kein banaler Ton Einlass findet. Der Begriff der «jungen Klassizität» existierte in der modernen Musik noch nicht, als die «Brautwahl» geschrieben wurde. Busoni selbst prägte die Formel erst 1920. Doch auch darin greift die Partitur ihrer Zeit voraus. Mit den Eigenschaften, die er später so klar umschrieben hat und die seine Musik selbst schon früher entwickelte, ist Busoni stilbildend gewesen. In einer Glosse mit dem Titel: «An die Jugend» hatte er seiner Liebe, seiner Ehrfurcht und seinem Dank an die junge Generation Ausdruck gegeben. Auch in der «Brautwahl» behält am Ende die Jugend recht: Edmund gewinnt Albertine. Doch wollen wir nicht vergessen, dass der gute Zauberer Leonhard, der uralte und doch alterslose Goldschmied, die Karten des Schicksalsspiels gemischt und gesorgt hat, dass die Jugend zu ihrem Recht kommt. Da er das künstlerische Schöpfertum verkörpert, liegt der Sinn des Werkes offen zu tage: Der Genius steht allemal mit der Jugend im Bunde, auch wenn diese vielleicht ihre Gaben so unschicklich gebraucht wie Edmund den Pinsel mit der grünen Farbe, durch die das Gesicht seines Nebenbuhlers ganz überflüssigerweise ausgelöscht wird.

STUCKENSCHMIDT, pp. 87 ss.