SERGIO MORABITO

SELBSTPORTRÄT DES KÜNSTLER
ALS DOKTOR FAUST


ZUR NEUPRODUKTION VON BUSONIS OPER IN SAN FRANCISCO UND STUTTGART


© PROGRAMMBUCH STAATSOPER
STUTTGART UND AUTOR


I. Die Zukunft der Oper

Ferruccio Busonis unvollendet hinterlassene Faust-Oper ist ein faszinierendes Werk. Sie konfrontiert den Hörer mit einer ganz und gar unvergleichlichen Dramaturgie. Uns wird keine Geschichte mit einem klar definierten Anfang und Ende erzählt. Es existiert kein Plot und kein 'Drama' mehr. Wobei die fragmentarische Form keineswegs - wie etwa bei Verdis Troubadour - den Konventionen des 'melodramma' geschuldet ist. Im Gegenteil stellt das Werk eine der vielleicht grundlegendsten Infragestellungen der Operntradition dar. Im Vergleich zu Busonis Faust-Dramaturgie wirken die Opern seines - in der Entwicklung des musikalischen Materials gewiss avancierteren - Zeitgenossen Berg geradezu als schlichtes, den Ansprüchen des 19. Jahrhunderts verhaftetes Erzähltheater: als musiktheatralischer Entwurf ist Lulu von Traviata nicht allzu weit entfernt. Busoni hingegen erfindet 'Oper' neu: als subjektive, offene Form, die alle bis dato verbindlichen dramaturgischen Verabredungen im Bewusstseinstrom ihres Autors aufzulösen bestrebt ist.
Das ist auch der Grund, warum Busoni auf das alte Puppenspiel vom Doktor Faust zurückgreift. Es bietet ihm keinerlei verbindliche 'dramatische Idee', keine klassische Konfliktstruktur, keine (psycho-)logische Entwicklung, sondern eine lose Rahmenstruktur, innerhalb derer er nach Belieben seinen eigenen Intentionen folgen kann, eine Art Projektionsfläche, auf der der Künstler sein Selbstporträt als Doktor Faust entwirft. Dieser moderne Subjektivismus Busonis ist obsessiv und reflektiert zugleich. Er prägt die inhaltlichen Themen des selbstverfassten Librettos ebenso wie die musikalische Substanz der Partitur.
So verweist die Bedeutung des Ostertags (in der 'Ostervesper und Frühlingskeimen' betitelten Symphonia sowie im Vorspiel II, der Paktunterzeichnung) auf Busonis Geburt an einem Ostersonntag (»Tag meiner Kindheit«, singt Faust). Die in der Symphonia als Glockenläuten auskomponierten Pax-Rufe des Chores dokumentieren Busonis Friedenssehnsucht während der Kriegsjahre 1914-18. Der Auftritt als fahrender Magier am Hof zu Parma stellt eine Reminiszenz an Busonis Tourneen als international gefeierter Klaviervirtuose dar (die ihn übrigens auch bis in den amerikanischen Westen und namentlich nach San Francisco führten). In der Schenkenszene zu Wittenberg stilisiert Busoni sich selbst als Meister im Kreise seiner Schüler (seit 1921 leitete er die Kompositionsklasse an der Berliner Akademie der Künste). Zudem stellt die Szene eine Momentaufnahme der zunehmenden politischen Radikalisierung der Weimarer Republik dar: Faust scheitert in seinem Bemühen, eine undogmatisch-vermittelnde Position zwischen Protestanten und Katholiken einzunehmen ganz ebenso, wie dem Italo-Deutschen Busoni die Anerkennung als Vermittler zwischen der 'romanischen' und der deutschen Musikkultur von den deutsch-nationalen Gralshütern verweigert wurde. Und last but not least reflektiert die Oper auch ihre eigene Entstehung im Bild des alchimistischen Großen Werkes, das zu vollbringen Faust in der Eröffnungsszene verzweifelt, bevor er seine Hoffnung auf die magischen Kräfte des ihm überbrachten Zauberbuches setzt, und dessen Vollendung der Geist der Herzogin noch in der letzten von Busoni vertonten Szene anmahnt.
Doch nicht nur, dass das Libretto Materialien seines äußeren und inneren Werdeganges einbringt, nein: die gesamte Musik ist die leibhaftige Summe von Busonis künstlerischem Schaffen, Vergegenwärtigung des von ihm als Interpret und Komponist durchdrungenen und erforschten musikalischen Kosmos. Busoni hat - in einem bis heute einmalig gebliebenen Verfahren - die musikalische Substanz seines Werkes aus 24 unabhängigen und selbständigen Kompositionen - Klavier- und Orchesterwerke, Kammermusik, Lieder -bezogen. Es dürfte in der ganzen Partitur keinen einzigen Takt geben, der nicht aus bereits existierendem, vorformulierten Material generiert wäre. Dabei handelt es sich keineswegs um das alte Pasticcio-Prinzip (dem wir immerhin so großartige Opern wie Händels Agrippina oder Donizettis Favorite verdanken, die fast ausnahmslos existierende Musik 'recycelt' haben). Genau gesehen stellt Busonis Technik vielmehr die Wiederlegung dieser gängigen Praxis dar.
Das sogenannte Parodieverfahren war musikgeschichtlich solange möglich, als der 'stile rappresentativo' eine jedem individuellen Werk vorgeordnete musikalische Rhetorik der Affekte bereitstellte sowie das kompositorische Material durch Formschablonen tatsächlich universal kompatibel war. Busoni konstatiert in seinen Betrachtungen über die Möglichkeiten der Oper (1921) das Aussetzen dieses Codes. Er schreibt: »Musik bleibt - wo und in welcher Form sie auch auftritt - ausschließlich Musik und nichts anderes; sie tritt in eine besondere Kategorie nur in der Vorstellung, durch Titel und Überschrift, einen unterlegten Text und die Situation in die man sie stellt.«
[zitiert nach: Ferruccio Busoni, Wesen und Einheit der Musik. Neuausgabe der Schriften und Aufzeichnungen Busonis, revidiert und ergänzt von Joachim Herrmann, Berlin 1956, S. 11] Es gibt also keine verbindliche Semantik von Musik mehr! Busoni definiert Musik erstmals als eine autonome Sprache, der jede Funktionalisierung äußerlich bleibt und die sich jedem Übertragungsversuch in unsere begriffliche Sprache entzieht: eine Sprache des Unbekannten, der wir uns zwar interpretierend nähern können, deren 'Sinn' aber niemals ein für alle mal festzuschreiben ist: »Es gibt keine 'Kirchen'-Musik an und für sich, sondern absolut nur Musik, der entweder ein kirchlicher Text unterliegt, oder die in der Kirche aufgeführt wird.
Ändern Sie den Text, so ändert sich auch die Musik. Nehmen Sie den Text ganz fort, so bleibt - illusorisch - ein symphonischer Satz.«
[aus: Junge Klassizität, zitiert nach: Ferruccio Busoni, Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. Ergänzte und kommentierte Neuausgabe von Martina Weindel, Wilhelmshaven 2001, S. 102]
Wir nähern uns mit diesem Zitat Busonis höchst modern anmutender Theorie der Bearbeitung, derzufolge jede Notation bereits die Transkription des unerreichbaren 'An sichs' eines musikalischen Gedankens darstellt: »Mit dem Augenblick, da die Feder sich seiner bemächtigt, verliert der Gedanke seine Originalgestalt.« [Wert der Bearbeitung, in: Ferruccio Busoni, Wesen und Einheit der Musik, a.a.O., S. 125] Die 'Tonkunst' formuliert lediglich Annäherungswerte an die jeder Formulierung transzendent bleibende 'absolute Musik'. So impliziert alle komponierte Musik in Busonis Verständnis die Aufforderung, interpretierend immer wieder neu bearbeitet zu werden. Das betrifft eigene und fremde Werke gleichermaßen, ja, hebt jede eindeutige Grenzlinie zwischen ihnen auf. Diese Theorie ist aus Busonis eigener kompositorischer Praxis erwachsen, die es ihm z. B. als 'Bach-Busoni' möglich macht, das kantable Motiv der Liebesverführung der Herzogin durch Faust (»Ich führe dich in die Unermesslichkeit der Welten...«) aus der kaum veränderten Tenorstimme von Bachs Bearbeitung des alten Lutherchorals Christ lag in Todesbanden zu gewinnen.
Alle hier aufgezeigten autobiographischen oder selbstreflexiven Momente der Partitur sind aus dem Lesen oder Anhören der Oper selbst kaum zu gewinnen. So stellt etwa das 'Symphonische Intermezzo', das im Anschluss an das Parma-Bild erklingt, nichts anderes dar als eine lediglich gekürzte Fassung von Busonis Sarabande. Auch wenn dieses Orchesterstück von Busoni bereits als Studie zum Doktor Faust konzipiert wurde, so geben doch weder Libretto noch Partitur den geringsten Hinweis darauf, wie diese Musik im Kontext der Opernhandlung zu verstehen sei. Busoni verweigert jede narrative Anbindung, wie sie doch sgist bei den sinfonischen Zwischenspielen der Operntradition üblich ist (z. B. Siegfrieds Rheinfahrt oder das Intermezzo sinfonico in Manon Lescaut). Diese 'absolute Musik' verweist in der Tat auf nichts anderes, als sich selbst. Sie hat keine Bedeutung, sie ist die Bedeutung, um die es geht. Rein als Musik stellt sie eine entscheidende Errungenschaft in der kompositorischen Entwicklung Busonis dar, und als solche hat sie das Recht, in seiner Faustoper an privilegierter Stelle zu erklingen. In gewisser Weise hat Busoni mit dieser Technik doch einen Vorläufer: den von ihm verehrten Hector Berlioz nämlich, der im Vorwort zu seiner eigenen Faust-Version, La Damnation de Faust, provokant verkündet, der einzige Grund, warum er seinen Helden im ersten Bild nach Ungarn führe, sei der Wunsch, eine 'Marche hongroise' in die Partitur zu integrieren. Berlioz freilich leistete sich diese lustvolle Aushebelung all dessen, was dramaturgische Verbindlichkeit heißen könnte, im zur Operntradition exterritorialen Raum des Konzertsaals, für den seine 'Legende dramatique' konzipiert ist, während Busonis Faust geradewegs auf eine Neudefinition von 'Oper' schlechthin zielt.


II. Zur szenischen Konzeption

Die Musik von Busonis Faustpartitur umfasst seine kompositorische Entwicklung von ihrem experimentellen Aufbruch in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts bis hin zu seinem Konzept einer 'Jungen Klassizität', mit dem er seinen sehr besonderen Standort zwischen Tradition und Avantgarde bezog. Die im fortgesetzten schöpferischen Dialog mit Bach, Mozart und Berlioz entstandene Partitur zählt durch ihre vokale und instrumentale Phantasie und die formale und satztechnische Meisterschaft, die ein heterogenes stilistisches Spektrum vom Bänkelsänger-Lied bis zur insistenten sinfonischen Meditation zu integrieren vermag, zu den ganz wenigen kanonischen Opernwerken des 20. Jahrhunderts. Warum sie trotz der hohen Wertschätzung, die sie gerade unter Musikern genießt, selbst in Deutschland eine vergleichsweise selten aufgeführte Oper geblieben ist, hat vermutlich in der Dramaturgie seinen Grund: nach wie vor stellen die assoziativen Strukturen des Szenariums ebenso wie die von Busoni verfolgten inhaltlichen Fragestellungen eine für Zuschauer wie Theatermacher gleichermaßen ungewohnte Herausforderung dar.
Die Notwendigkeit einer theatralischen Vergegenwärtigung und Konkretisierung von Busonis Reflexion auf die eigene Kunstproduktion hat uns dazu geführt, Faust als einen eher im Bereich der Bildenden Kunst agierenden Konzeptkünstler darzustellen. Der musikalische Universalist Busoni, der als Virtuose und Komponist, Dirigent und Dichter, Zeichner und Librettist, Sammler und Herausgeber Zeit seines Lebens gegen die abgesteckten Grenzen des Musikbetriebs anrannte, verfolgte Jahre hindurch den Plan, das Renaissancegenie Leonardo da Vinci zum Protagonisten einer Oper zu machen. Dieses universalistische Ideal spiegelt sich heute in der Öffnung der Malerei auf die Bereiche des Happenings und der Installation, der Foto- und Videoarbeit, des utopischen Manifests und der Dokumentation. Und auch die bei Busoni unauflösbare Verschränkung von Selbstdarstellung und -inszenierung, Biographie und Produktion kann durchaus mit zeitgenössischen Formen der Aktionskunst in Beziehung gesetzt werden: Faust als Provokateur, der mit einer an Größenwahn grenzenden Gnadenlosigkeit sich selbst und der Gesellschaft gegenüber agiert. Ein radikaler Anti-Bürger, der den gesellschaftlich sanktionierten Kunstkonsum - dem auch Busonis aristokratische Verachtung galt - zu sabotieren versucht. Eine problematische, gleichwohl faszinierende Künstlergestalt, die die Produktion von abgeschlossenen Werken verweigert, vielmehr sich selbst, ihr 'Lehen' zum Kunstwerk erklärt.
Unsere Inszenierung zeigt, dass auch die Verführung der Herzogin (durch die Projektion seiner und der Herzogin Züge in die Bilder dreier biblischer Liebespaare) über seine Kunstproduktion funktioniert. Als 'Ort der Handlung' nehmen wir Fausts Arbeits-, Lebens-und Sterberaum an, in dem »seine bösen Geister ihr Spiel treiben«, wie es im Text heißt, und die Gegenwart der Szene immer wieder von Erinnerung, Tagtraum oder Obsession bestimmt wird.


III. Busoni und Goethe

Busonis Fassung der Faustfabel stellt eine komplexe Reaktion auf Goethe dar. Nach seinem Verzicht darauf, Goethes Drama selbst zu vertonen, und der Entscheidung, das von dem Germanisten Karl Simrock 1846 nachempfundene Puppenspiel Doktor Johannes Faust als wichtigste Quelle zu benutzen, war Busoni bemüht, die Spuren der Abhängigkeit seiner Konzeption von Goethes Werk zu tilgen. Als etwa die Ermordung des Soldaten, der in der ursprünglichen Textfassung noch als 'Gretchens Bruder' bezeichnet war, zu dem herabsetzenden Vergleich eines Kritikers mit der entsprechenden Szene in Goethes Faust I geführt hatte, apostrophierte ihn Busoni hinfort nur noch als 'Des Mädchens Bruder'. Dennoch bleibt Busoni mit der Anspielung auf ein Mädchen, das die Liebe zu Faust ins Unglück gestürzt hat und deren Bruder dafür an Faust Rache nehmen will, Goethe verpflichtet. Denn Goethe war es gewesen, der die alte Gelehrtentragödie mit der authentischen zeitgenössischen Fallgeschichte einer Kindsmörderin verbunden hatte.
[Unter den Notizen zum ursprünglich Mephistopheles zugedachten Prolog finden sich die Verse: »Das Gretchen ist, wie schade, nicht mehr da, / denn es gehört bereits zur Vorgeschichte / von diesem sehr moralischen Gedichte.« (zitiert nach: Nancy O. Chamness, The Libretto as Literature. Doktor Faust by Ferruccio Busoni, New York etc. 2001, S.22)]
Auch das Motiv des toten Kindes, das bei Busoni eine zentrale Bedeutung gewinnt, ist der Faustüberlieferung gänzlich fremd und gleichfalls erst durch Goethes 'Gretchentragödie' mit ihr assoziiert worden. In den alten Quellen begegnet allerdings ein Sohn Fausts. Diesen hat er jedoch mit dem - wohl von einem Dämonen verkörperten - Trugbild der trojanischen Helena gezeugt, mit der er sein letztes Jahr »verbuhlt«, bevor ihn der Teufel holt. Gänzlich verändert begegnet dieser Sohn Fausts auch wieder bei Goethe, und zwar als Euphorion, dem der Verbindung von Mittelalter (Faust) und klassischer Antike (Helena) entsprungenen Genius der romantischen Poesie. (Dieser Genius ist von Busoni in seinem visionären Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst [traduzione] (1906) als Metapher des »schwebenden Kindes Musik« umgedeutet worden.)
Während also Faust I um die Beziehung des Protagonisten zu Gretchen zentriert ist, steht in Faust II seine Beziehung zu Helena im Mittelpunkt. Diese beiden weiblichen Gestalten spielen zwar auch in Busonis Faust noch eine Rolle, erscheinen aber zugunsten einer dritten Geliebten Fausts, der Herzogin von Parma, marginalisiert: Gretchen wird als anonymes 'Mädchen' in die Vorgeschichte verbannt, Helena wird von Mephistopheles und Faust zwar wortreich beschworen, bleibt aber selbst ungreifbar, ein »in Nichts zerfließendes« Phantom. Zurecht nimmt Busoni für sich in Anspruch: »Die Herzogin aber mache ich zum Ausgangspunkt eines eigenen Gedankenlaufes, womit ich das Puppenspiel verlasse. - »Das Kind« wird zum Symbol, das eine fast versöhnende und über den Rahmen des Spiels hinausgehende Lösung veranlasst und ermöglicht«
[Brief an Gisella Selden-Geth vom 14. Mai 1920]. In der Tat ist eine zu einer Schwangerschaft führende Beziehung Fausts zur Herzogin, anlässlich von deren Hochzeit er sich am Hof zu Parma produziert, in keiner Quelle ausformuliert [In Simrocks Puppenspiel bleibt es beim riskanten Flirt. Andere Puppenspiele schildern einen Fntnhrungs- und Vergewaltigungsversuch Fausts. In Heines »Tanzpoem« Der Doktor Faust outet sich die ehebrecherische Herzogin allerdings als Arcisposa des Teufels, Oberste Höllenbraut, »auch genannt die Domina mit dem güldenen Schuh«].
Die bei Busoni von Faust auf den ersten Blick hingerissene Herzogin wird von ihm »an ihrer Hochzeitsnacht genommen« und bringt - nachdem Faust sie wieder verlassen hat - ein Kind zu Welt, das unter ungeklärten Umständen zu Tode kommt. Dieses »in lauterster Impulsivität entstandene Wesen« sollte, nach Busonis Worten, »das geistige Fortleben des Individuums, des 'Willens', wie F. selbst sich zuletzt nennt« begründen. Im geplanten Schlussbild der Oper sollte der sterbende Faust dem toten Kind »sein Leben vermachen« und »an der Stelle, wo das the Kind lag, ein nackter halbwüchsiger Jüngling« aufsteigen, »einen blühenden Zweig in der Rechten«, mit »erhobenem Arm über den Schnee in die Nacht und in die Stadt hinein« schreitend. In dieses jugendstilhafte Symbol hat Busoni die Hoffnung auf die Einlösung des Zukunftsversprechen seines eigenen grenzüberschreitend-'faustischen' Strebens gekleidet.
Man könnte Busonis Konzeption als den Versuch beschreiben, in der Herzogin von Parma Gretchen mit Helena, die menschliche mit der mythischen Geliebten Fausts zu vereinen und in der Winternacht des letzten Bildes die allegorische Bedeutung des Jünglings Euphorion auf den kleinen kalten Leichnam des gemordeten Gretchenkindes zu projizieren.


IV. Credo

Sehr eigentümlich hat Busoni die Szene der Paktunterzeichnung gestaltet (Vorspiel II, im Anschluss an den Geschwindigkeitstest der sechs Geister). Dass dem Pakt die Verführung des Mädchens bereits vorangegangen ist (bei Goethe ist es natürlich umgekehrt) und dieser selbst eher eine Art Quittung für die bereits empfangene Dienstleistung des Mordes an den Gläubigern darstellt, mit der Mephistopheles sein Versprechen, »so geschwind zu sein als wie des Menschen Gedanke« - in diesem Falle der Mordwunsch Fausts - eingelöst hat, sei nur beiläufig erwähnt. Noch merkwürdiger berührt, dass diese ganze Sequenz mit Abschnitten aus dem lateinischen Glaubensbekenntnis unterlegt ist, das von drei solistischen Frauenstimmen und dem Chor aus dem off intoniert wird (»Credo», »Et resurrexit», »Et iterum venturus«). Natürlich ist das Thema des Ostertages bei Goethe vorgebildet - und auch von Berlioz schon einmal musikalisch hinreißend gestaltet worden -, allerdings mit genau entgegengesetzter Funktion. Dort hält (in der Szene »Nacht«) die vom Chor der Engel angestimmte Osterbotschaft »Christ ist erstanden« den verzweifelnden Faust vom Selbstmord ab - nicht der Glaube, »der ihm fehlt«, freilich rettet ihn, sondern seine menschliche Rührung durch die Erinnerung an Kindheit und Jugend (»Die Träne quillt, die Erde hat mich wieder!«).
Bei Busoni verhält es sich auf subtile Weise anders. Das Credo scheint Mephistopheles den Text seines Vertrages, den er aufzusetzen sich anschickt, in einem Akt blasphemischer Verbalinspiration geradezu zu suggerieren. Und als der zunächst vom Chor homophon vorgetragene Gesang in den polyphonen Verästelungen der drei Frauenstimmen, denen je ein Solostreicher zugeordnet ist, mit palestrinahafter Süße auszuschwingen beginnt, stammelt Faust: »Wo ist mein Wille, wo mein Stolz geblieben«. Mit angehaltenem Atem lauscht er und wird lauschend wieder zu dem Kind, dass seiner Angst vor den Drohungen des göttlichen Strafgerichtes schutzlos preisgegeben ist (»Et iterum venturus est«). In die heftigen Dies irae-Akzente des Chores stimmt Mephistopheles mit den Worten ein: »Ein Mann, Faust, du hast dein Wort zu halten: vollziehe!« Worauf Faust - ohnmächtig aufbegehrend - im selben Augenblick, da seine Hand schon den Pakt unterzeichnen muss, sich mit seinen Worten noch an den alten Überzeugungen festzuklammern sucht: »Es gibt kein Erbarmen, es gibt keine Seligkeit, den Himmel nicht und nicht die Höllenschrecken: dem Jenseits trotz ich!« Doch als Faust das unterschriebene Blatt »zitternd« Mephistopheles »entgegenstreckt«, zitieren die Bläser eine sequenzierte Phrase aus der ersten Credo-Intonation des Chores. Und die Akklamation des doppelchörigen Gloria gilt dem triumphierenden Mephistopheles, der sich - laut Regieanweisung - an dem Anblick seines ohnmächtig zusammengesunken Opfers weidet: der Dämon als Priester, der Teufel als Seelenfänger Gottes.
Rückwirkend kann die ganze Szene - deren Zuspitzung durch das (halluzinierte?) Pochen an Fausts Tür, der 'telepathische' Mord an den Gläubigern und die von Mephistopheles ertrotze Anerkennung von dessen 'Autorschaft' durch Faust - als Einübung in das christliche Konzept der »Gedankensünde« analysiert werden. Das vergegenwärtigte Credo soll also mitnichten den Abstand vermessen, der Faust nunmehr von der Gemeinschaft der Gläubigen trennt. Im Gegenteil etabliert es die Disziplinierung und Unterordnung des Abtrünnigen unter die theologische Autorität. Fausts Paktunterzeichnung markiert kein trotziges Aufbegehren gegen Gott, sondern die in regressiver Angst vollzogene Kapitulation seines »Willens«, die mit subtilen Mitteln ins Werk gesetzte Infantilisierung Fausts. In Abwandlung von Goethes Formulierung könnte man von Busonis Faust sagen: »Die Träne quillt, der Himmel hat ihn wieder.«


V. So sei das Werk vollendet?

Busoni hat seine Oper nicht vollenden können. Dennoch wäre es falsch, das Klischee vom »Tod, der ihm die Feder aus der Hand nahm«, zu bemühen. Die unvollendete Partitur blieb bis zu seinem Tod ein Jahr lang unberührt liegen und man darf wohl nicht nur Busonis schwer angeschlagene Gesundheit, sondem auch innere Grunde hierfür annehmen. Es handelt sich um zwei Stellen des Librettos, zu denen Busoni keine Musik mehr gefunden hat. Die erste ist die von Mephistopheles aus der Asche des toten Kindes beschworene Erscheinung Helenas. Auch wenn Fausts schmerzliche Sehnsucht nach ihr bereits die Symphonia durchklingt, so hat sich ihre Gestalt letztlich nicht nur dem Zugriff Fausts sondern auch Busonis musikalischer Gestaltungskraft entzogen: »Als er sie endlich zu halten wähnt, zerfließt die Gestalt in Nichts« lautet die letzte Regieanweisung zu der unkomponiert gebliebenen Helena-Pantomime. Die Komposition setzt erst wieder bei den Worten ein: »Der Mensch ist dem Vollkommenen nicht gewachsen.« Das Begehren Fausts bleibt unerfüllt, schlägt um in Resignation. Merkwürdigerweise und wie zur Bestätigung der Triftigkeit dieser merkwürdigen Parallele, ist die musikalische Unterbrechung in der Zäsur zwischen den beiden Formabschnitten nicht zu bemerken. Die harmonische Fortschreitung bewegt sich durchaus in den Koordinaten der in die Schwebe gebrachten Funktionsharmonik der Faust-Musik. Helena bleibt eine Chimäre Mephistopheles', und auch in unserer Aufführung ohne szenisch-musikalische Vergegenwärtigung.
Die zweite Stelle ist das Ende des Schlussmonologes und der ganzen Oper, die beschworene »Vollendung seines Werkes«, in der der sterbende Faust dem toten Kind das Leben zurückschenken sollte.
[Die letzten vertonten Worte sind nicht - wie lange angenommen - die Verse »O, beten, beten! Wo die Worte finden? Sie tanzen durch's Gehirn wie Zauberformeln«, sondern die von Antony Besumont in Partiturreinschrift aufgefun-denen nächsten MM Sätze: »O beten, lass mich beten! Ich will wie ehmals aufschaun zu diem«.] Vergegenwärtigen wir uns die musikalische Disposition dieser Schlussszene. Nachdem der Nachtwächter die Studenten vertrieben hat und Faust mit seinem Schicksal hadert, ertönt aus der Kirche Bachs Bearbeitung von Luthers Osterchoral Christ lag in Todesbanden - freilich mit neuem Text. Dieser verschiebt den Akzent von der Verheißung der Auferstehung auf die mit ihr verknüpfte Drohung des jüngsten Gerichts: »Der Tag des Gerichts ruft uns herauf, / ... / Verhüllten Auges harren sie bang des erlösenden Richterwortes, / doch die Böses vollbrachten / sind auf ewig verbannt.»
Der letzte von Busoni musikalisch noch erstellte Formabschnitt - ab dem Wiedererscheinen der Herzogin als Bettlerin - ist eine Reprise. Bei der Übergabe des toten Kindes wird Musik aus ihrer Arie zitiert. Und ab Ziffer 44, vor dem Einsatz Fausts »Meine bösen Geister, sie treiben ihr Spiel« kehren die Rondothemen aus dem Szenischen Intermezzo wieder, wo sie den Mord an Gretchens Bruder in der »uralten romanischen Kapelle« kontrapunktieren. Statt von der Orgel werden sie nun vom gesamten Orchester gespielt, während Stimme und Worte des Bruders vom Männerchor im unisono - über Paukenwirbeln und mit Posaunen-Echo - vergrößert aufgegriffen werden. Den letzten vertonten Satz grundiert das mit dem inbrünstigen Gebet des Soldaten assoziierte Material im 34-Takt. Mit dieser a capella endenden Phrase »Ich will wie ehmals aufschaun zu Dir« sollte der - laut Regieanweisung -auf den Kniestufen des »lebensgroßen Kruzifixes« zusammengesunkene Faust, das tote Kind im Arm, den Kopf aufrichten. Hier bricht die Komposition ab. Den gedachten Fortgang entnehmen wir dem Librettoentwurf: »Der Nachtwächter, von hinten herangeschlichen, hebt seine Laterne. In ihrer Beleuchtung verwandelt sich der Gekreuzigte in Helena.« Mit Fausts Ausruf »Verdammnis! Gibt es keine Gnade? Bist du unversöhnbar?« ist der traditionelle Endpunkt der Faustsagen und -spiele vor Goethe erreicht. Woraufhin Faust sich, mit Erteilung einer Absage an Gott und Teufel, »neugekräftigt« hätte »aufrecken« und seine eigene Auferstehung ins Werk setzen sollen.
Freilich: indem er sich in Helena verwandelt (das Libretto legt diese aktive Lesart durchaus nahe) bindet 'der Gekreuzigte' den sich Demütigenden noch enger an sich. Nach dieser Verwandlung insistiert der von den Dämonen seiner Schuld bedrängte Faust nur verzweifelter auf einem Dialog mit Gott: »Bist du unversöhnbar?« Und die endliche, durch das Schweigen Gottes provozierte Absage an »Gott und Teufel zugleich« verhält sich zum Entzug von Gottes Sichtbarkeit komplementär. Zwar ist die 'metaphysische Komplizenschaft' durchschaut, doch indem sich die Abkehr »Euch zum Trotze« vollzieht, bleibt sie der Logik des Dialogs, den sie doch aufkündigen möchte, verhaftet. Ihr Adressat ist kein anderer als )der Gekreuzigtet. Reproduktion des christlichen Teufelskreises also, keine Durchbrechung.
Innerhalb der Koordinaten der abendländischen Kultur gibt es kein Entrinnen aus dem Schuldgefängnis des Christentums - der »Unmöglichkeit, aus der Schuldigkeit gegenüber Gott zu treten«
[Christina von Braun, Das Behagen in der Schuld, in: Die verborgenen anthropologischen Entwürfe der Psychoanalyse, hrsg. von Lilli Gast und Jürgen Körner, Tübingen 1997, S. 92]. Kaum eine andere Fassung des Faust-Stoffes offenbart so rückhaltlos wie Busonis Oper »dass die treibende Kraft des Säkularisierungsdrangs, und damit auch die Entstehung des sich., selbst als omnipotent phantasierenden westlichen Subjekts, das Gefühl der Schuld ist.« [Ebd. S. 91] Sie tut dies freilich erst, wenn auf stilistisch und methodisch fragwürdige Komplettierungsversuche und mit ihnen verbundene Scheinlösungen verzichtet wird. Daher soll Busonis Faust-Oper in San Francisco und Stuttgart erstmals in ihrer vom Komponisten hinterlassenen unvollendeten Form realisiert werden, zudem - ebenfalls erstmals in einer szenischen Aufführung - alles authentische musikalische Material ungekürzt erklingen.

Zur Deutung des 'Scheiterns' des Komponisten Busoni an Fausts Schlussmonolog ist nachzutragen, dass dieser eine späte Zutat darstellt: »Zur ersten Kriegsweihnacht schrieb ich, wie im Fieber, und in sechs Tagen den Text
[laut seinen Arbeitsnotizen bis zum 26. Dezember 1914 (Nancy O. Chamness, The Libretto as Literature, a.a.O., S. 33)] bevor ich verliess, was hinter mir zusammenstürzte. - Der mystische Schluss entstand aber viel später, hier [= in Zürich], auf Rubiners [In der Tat ist das Manuskript des Schlussmonologs ad den 4. Oktober 1917 datiert. Ludwig Rubiner (1881-1920) war Dichter, Litersturkritiker und Essayist des Expressionismus. Wie Busoni ging Rubiner bei Kriegsausbruch ins freiwillige Exil nach Zurich.] Kritik hin« berichtet Busoni am 14. Mai 1920 an Gisella Selden-Goth. Seine ursprüngliche Konzeption, deren Umrisse sich dem Brief an seine Frau vom 31. März 1915 entnehmen lassen, folgte »der Tradition des Puppenspiels« in einer allerdings entmythologisierten Form. Dieser Brief weist in eine ganz andere Richtung als die der titanischen Apotheose (Jarnach, 1925) oder der meditativen Selbsterlösung (Beaumont, 1984). Nüchtern konstatiert er den Zerfall metaphysischer Symbolik und wirft einen »alltäglich-menschlichen« Blick auf Fausts Scheitern, Krankheit, Schuld und Enttäuschung ohne dem reflexartigen, kulturell eingeübten Zwang zur Überhöhung und Verherrlichung noch zu gehorchen:

Ich habe mit großer Dankbarkeit und Freude Deinen Brief empfangen und gelesen. Was das Ende meines Stückes [Doktor Faust] anlangt, so habe ich erstens zwei äußere Gründe:
1. ich folge der Tradition des Puppenspiels,
2. es gibt ein frappantes Bild.
Aber der innerlichen Logik gehorchend, ist dieser Schluß unvermeidlich. Dieser Mann ist weise genug, um eigene Gesetze haben zu dürfen; aber er hat seine Weisheit vergeblich gebraucht: Er ist mehrerer Morde schuldig und eigentlich keiner guten That verdienstlich.
Überdies ist der Teufel als Nachtwächter, vom Bösen sehr entfernt und ins Alltäglich-Menschliche gerückt, so daß die Situation kaum mehr symbolisch ist.
Endlich sagt Faust selbst:
»Ist das Leben nur ein Wahn,
Was kann der Tod mehr sein?«
So daß die Wirklichkeit des Teufelsbegriffes derart in Zweifel gezogen ist, daß sie ihre Bedeutung einbüßt.
Was hat der letzte Akt mehr mit dem Teufel zu thun? - Ein Mann, krank, enttäuscht und vom Gewissen geplagt, stirbt am Herzschlag und wird von dem Nachtwächter aufgefunden.- Das letzte Wort ist auch: »ein Verunglückter« (und nicht etwa: »verdammt« oder Ähnliches).
Was den Ausschlag gibt ist jedoch, daß ich das nicht anders fühle; und in dieser merkwürdigen Somnambulik, die mir das Ganze diktierte, wurde ich gerade hingeführt. - ...
Heute morgen wachte ich auf, als der Sonnenball aus dem Wasser stieg, gerade gegenüber meinem Bett. Er sah unheimlich und prähistorisch aus. -

Ferruccio Busoni an seine Frau,
Chicago, 31. März 1915