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MAGAZIN OPERNHAUS ZÜRICH

«DIE TOTE STADT» VON KORNGOLD

EINLEITUNG

Erich Wolfgang Korngold, am 29. Mai 1897 als Sohn des renommierten österreichischen Musikkritikers Julius Korngold im mährischen Brünn geboren, galt schon als Kind als ein ungewöhnlich begnadeter Musiker. Komponisten wie Gustav Mahler, Alexander von Zemlinsky und Richard Strauss erkannten und förderten sein Genie. Mit seiner im Alter von 11 Jahren komponierten und von Zemlinsky instrumentierten Ballettpantomime «Der Schneemann», die 1910 in Wien zur Uraufführung gelangte, wurde der 13jährige Korngold zum Wunderkind des Tages. So heisst es in einem Brief Zemlinskys aus dieser Zeit: «Lieber Erich! Ich höre, du lernst bei Grädener. Macht er Fortschritte?».

Allerdings diskutierte man auch mehrere Monate die Frage, ob Julius Korngold, seit 1901 als Musikkritiker Kollege und später Nachfolger von Eduard Hanslick bei der «Neuen Freien Presse» in Wien, seinem Sohn den Weg geebnet habe oder ob sich allein dessen überdurchschnittliches Talent Bahn breche. Julius Korngold setzte daraufhin alles daran, dass keine Oper seines Sohnes mehr in Wien uraufgeführt wurde.

Seine beiden nächsten Werke, «Violanta» und «Der Ring des Polykrates», brachte Bruno Walter 1916 in München heraus. Um die Uraufführung seiner im August 1920 fertig gestellten Oper «Die tote Stadt» bewarben sich gleich mehrere Theater, so dass es am 4. Dezember desselben Jahres zu einer Doppelpremière kam: In Köln gelangte das Werk unter der Leitung Otto Klemperers zur Uraufführung, in Hamburg unter Egon Pollack. Danach etablierte es sich rasch an zahlreichen anderen Bühnen; in Zürich war es erstmals am 3. November 1922 zu hören. Nach diesem einhelligen Erfolg auch im Ausland gelangte Erich Wolfgang Korngold auch in Wien zu offiziellen Ehren; 1926 wurde ihm der Kunstpreis der Stadt Wien verliehen, 1931 erfolgte seine Ernennung zum Prof. h. c. und seine Berufung an die Wiener Staatsakademie.

In diesen Jahren entstanden kammermusikalische Werke, das für Paul Wittgenstein komponierte Klavierkonzert für die linke Hand (1922/23) und seine vierte Oper «Das Wunder der Heliane» (1923/27). 1923 bearbeitete Korngold die Johann Strauss-Operette «Eine Nacht in Venedig» für das Theater an der Wien, nach deren erfolgreicher Première er sich weiterhin der Neugestaltung klassischer Operetten widmete, bis hin zu der 1929 mit der «Fledermaus» beginnenden Zusammenarbeit mit Max Reinhardt, der ihn dann für seine Verfilmung von Shakespeares «A Midsummer Night's Dream» 1934 nach Hollywood einlud.

Kurze Zeit später unterzeichnete Korngold, der sich der Gefährdung seiner Familie durch den auch in Österreich zunehmenden Nazi-Terror bewusst war, einen Vertrag mit Warner Brothers und wurde gleich für eine seiner ersten Original-Filmpartituren zu «Anthony Adverse» (1936) mit dem Oscar ausgezeichnet, ebenso 1938 für «Robin Hood». Korngolds endgültige Emigration 1938 setzte eine deutliche Zäsur: Bis zum Ende des 2. Weltkriegs arbeitete er fast ausschliesslich für den Film. Mit seinen nach Kriegsende fertiggestellten Werken, etwa dem in den USA umjubelten Violinkonzert (1937/45), der Symphonischen Serenade (1946/47) oderder Symphonie in Fis (1949/52), konnte Korngold ebensowenig wie mit den vereinzelten Aufführungen seiner Vorkriegswerke in Europa wieder Fuss fassen. Als Filmkomponist abgestempelt starb Erich Wolfgang Korngold verbittert und enttäuscht am 29. November 1957 in Hollywood.

Den sensationellen Erfolg, den Korngold seinerzeit mit der «Toten Stadt» erntete, erklärt Franz Welser-Möst damit, dass der Komponist sehr genau den Nerv der damaligen Zeit traf, in der sich eine gewisse Orientierungslosigkeit bemerkbar machte. Er bediente Sehnsüchte einer vom Krieg gezeichneten Generation, in der sich Trauer um Verlorenes mit dem Wunsch nach Bewältigung der Vergangenheit mischten. So schreibt Korgold u.a., ihn habe «der Kampf der erotischen Macht der lebenden Frau gegen die nachwirkende seelische Macht der Toten, die tiefere Grundidee des Kampfes zwischen Leben und Tod überhaupt, insbesondere der schöne Gedanke notwendiger Eindämmung der Trauer um teure Tote durch die Rechte des Lebens» an diesem Stoff angezogen.

Erstaunlich ist es für den Dirigenten, dass schon in diesem frühen Werk alles enthalten ist, was auch die späteren Werke kennzeichnet – etwa die rund dreissig Jahre danach in Hollywood komponierte Symphonie in Fis, die er zusammen mit Mariettas Lied und Liedern des 14jährigen Komponisten auf Platte eingespielt hat. Da lässt sich kein stilistischer Unterschied erkennen. Die Partitur der Oper ist handwerklich hervorragend und – sie ist elendiglich schwer für alle Beteiligten. Eine einzelne Orchesterstimme sei, wie ein Kollege bemerkte, komplizierter als der gesamte Klavierauszug. Von den technisch hohen Anforderungen abgesehen, bedarf es grösster Aufmerksamkeit, um die schnell wechselnden Rhythmen, von denen zumeist mehrere übereinander gelagert sind, oder die minutiös festgelegten dynamischen Vorschriften exakt auszuführen.

So kompliziert die Partitur ist, so genau muss man sein, um der Gefahr der Einebnung zu entgehen, denn sonst hat man schnell die berühmte «dicke Sauce». So sehr man auch geneigt sein mag, das Werk mit seinen Puccini- und Straussanklängen der Spätromantik zuzurechnen, so sehr neigt es sich auch dem Impressionismus etwa eines Ravel zu. Und es erstaunt, dass bei dem ungeheueren Orchesterapparat und den «Millionen von Noten» es zu keinen Problemen mit der Lautstärke kommt. Korngold hat ein ungeheuer schillerndes Werk geschrieben, das man mit dem Wort «raffiniert» vielleicht am Treffendsten charakterisiert. Wie ein Zauberkünstler weckt er Illusionen, scheut auch nicht den Effekt und entspricht damit den Forderungen, die sein Vater Julius Korngold an die modernen Opernschaffenden stellte: «Unerlässlich auch, dass sich die Oper nicht zu weit in Künstlichkeit verirre, nicht den Boden des Volkstümlichen unter sich verliere. Sie ist und bleibt die Stätte sinnlicher Fassbarkeiten, an die Lebensnotwendigkeiten des Theaters mehr gebunden als andere dramatische Gattungen. [S] Opernmusik, die wahre und echte Theatermusik ist, die Szene sieht, sich auf den Theatereffekt versteht, hört darum noch nicht auf, wahre und echte dramatische Musik zu sein, sofern sich nur elementare Kraft, Gefühl und Leidenschaft, das Vermögen der Gestaltung und Charakterisierung in ihr aussprechen.»

Die Musik der «Toten Stadt» ist ausgesprochen bildhaft und von unmittelbarer Wirkung, und es ist bestimmt kein Zufall, dass der Komponist zum Pionier auf dem Gebiet der Filmmusik wurde. Zwar wollte er, wie auch etwa Franz Lehár oder Johann Strauss, in den letzten Jahren seines Lebens der «leichten Muse» entkommen, etwa mit der erwähnten Symphonie den Beweis antreten, ein «ernsthafter» Komponist zu sein, doch schon die «Tote Stadt» erinnert in vielen Passagen, etwa dem Beginn der ersten Szene des zweiten Aktes an den späteren Hollywood-Komponisten.

Und das sollte man weder belächeln noch negativ bewerten, zumal in Anbetracht des hohen Stellenwertes, das dieses Medium besitzt. Gerade in den letzten Jahren lässt sich vorwiegend bei amerikanischen Komponisten wieder ein Rückbezug auf den Film als Inspirationsquelle beobachten, und es scheint kein Zufall, dass «Die tote Stadt» derzeit regelrecht boomt.

Den ersten Anstoss zur «Toten Stadt» als Opernsujet gab der Shaw-Übersetzer Siegfried Trebitsch, der die Korngolds auf den Roman «Bruges-la-Morte» (1892) von Georges Rodenbach aufmerksam machte. Dieser erzählt von einem Witwer, der sich in der sittenstrengen und katholischen, der toten Stadt Brügge ganz der Erinnerung an seine verstorbene Frau hingibt, ihr Andenken in Form von Reliquien – etwa ihrem goldenen Haar – bewahrt und pflegt. Seine Ruhe wird jäh gestört, als er in einer Tänzerin, die er in «Robert le diable» als vom Grabe auferstandene Helena erlebt, eine Wiedergängerin seiner Frau zu erkennen glaubt. Er macht sie zu seiner Geliebten in dem Wahn, seiner Frau damit weiterhin die Treue zu halten. Doch der Selbstbetrug wird bald offenbar, als er des vulgären Wesens der Tänzerin gewahr wird. Selbst ihr goldenes Haar ist nur gefärbt. Doppeltes Schuldbewusstsein quält ihn nun: Verrat an der Toten und sündiger Lebenswandel. Als die Tänzerin sich in einer heftigen Auseinandersetzung des Haares seiner Toten bemächtigt, erdrosselt er sie damit.

Dieser Roman aus der Zeit des Spätsymbolismus und der Décadence-Literatur, der vor allem von mystischen Bildern und atmosphärischen Stimmungen lebt, wurde auch in einer dramatisierten Fassung unter dem Titel «Le Mirage» im Nachlass des 1898 verstorbenen belgischen Poeten aufgefunden. In Trebitschs deutscher Übertragung als «Die stille Stadt» bzw. «Das Trugbild» war das Drama 1903 in Berlin zur Aufführung gelangt.