ANDREAS K.W. MEYER

G. F. MALIPIERO - I CAPRICCI DI CALLOT

Eine Einführung in das Schaffen des Komponisten uns seine Oper

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Der Hauptvorhang hebt sich, ein zweiter Vorhang wird sichtbar, ouf den ein riesiges barockes Cembalo gemalt ist. Aus einem der drei Füße, der eine kieine Tür bildet, kommen mehrere Gestalten, die den bekannfen Masken Collets in den «Balli di Sfessania» gleichen. Die Figuren tanzen ihrer Eigenart gemäß; sie treten in ganz bestimmter Reihenfoige auf:

Ein jedes dieser Paare zieht sich dann wieder in das Cembalo zurück, so daß immer nur ein Paar tanzend auf der Bühne bleibt.

Auf ein siebenminütges Vorspiel folgt ein fast zehnminütiger stummer Prolog, dessen szenische Gestalt hier gerade beschrieben wurde; insgesamt vergehen also beinahe zwanzig Minuten, bis wir die erste Singstimme in dieser Oper hören, die knapp sechzig Jahre noch ihrer Uraufführung in fast vollkommene, nicht nachvollziehbare Vergessenheit geraten ist.
Dem geneigten Leser, der etwa willig und bereit sein sollte, auf einige Stunden dem Ernst zu entsogen und sich dem kecken launischen Spiel eines vielleicht manchmal zu frechen Spukgeistes zu überlassen, bittet aber der Herausgeber demütiglich, doch je die Basis des Ganzen, nämlich Callots fantastisch karikierte Blotter, nicht aus dem Auge zu verlieren und auch daran zu denken, was der Musiker etwa von einem Capriccio verlangen mag.
Im Vorwort zu seiner Novelle Prinzessin Brambilla bezieht sich E. T. A. Hoffmann ouf den Zyklus Balli di Sfessania des Franzosen Jacques Callot, der um 1622 eme Reihe von vierurdzwanzig Radierungen grotesker Figuren in Anlehnung on das italienische Stegreiftheater geschaffen hatte.
Diese teilweise in fast entstellender Verdrehung dastehenden und sich gegenseitig neckenden Figuren nahm Hoffmann im Jahre 1820 als Vorbilder für das Personal seines berühmten Capriccios, das auf den ersten, ungenauen Blick sehr viel lichter und freundicher wirkt als jene Erzählungen, die in Jacques Offenbachs Vertonung auf die Opernbühne gebracht wurden. Fast harmlos mutet zunächst die Geschichte an um den eitlen, aber gutartigen Schauspieler Giglio, der im römischen Karneval zwischen der Rolle des Fürsten und seinem Leben in der Realität nicht mehr zu unterscheiden vermag. Und auch dessen Verlobte, die arme Näherin Giacinta, identifiziert sich mit einem von ihr gefertigten Prachtgewand so sehr, daß sie sich selbst als Prinzessin sieht. Nach allerlei Verwirrungen, die sich bei genauerem Hinsehen als sehr wohl überaus eingeschwärzt à la Hoffmann erweisen, finden die beiden schließlich doch noch zueinander. - Eigentlich also ein Stoff, aus dem dos Theater Komödien macht. Und das Musiktheater eben komische Opern.
Walter Braunfels, der glücklicherweise allmählich wiederentdeckte große Opernkomponist, hat 1909 am Stuttgarter Hoftheater seine musikalische Komodie PRINZESSlN BRAMBILLA zur Uraufführung gebracht, ein in der Tat heiteres, unbeschwertes Werk in spätromantischer Tradition, das die grotesken Seiten des Hoffmann-Textes nicht überbetont, aber auch nicht unter den Tisch fallen läßt.
Braunfels' PRINZESSIN BRAMBILLA beeindruckte etwa Ferruccio Busoni so sehr, daß er selbst sich an die Vertonung einer Erzählung E. T . A. Hoffmanns machte und noch Motiven aus den Serapionsbrüdern seine erste vollendete Oper DIE BRAUTWAHL komponierte.
In der phantasievollen Ausdeutunq von Callots Balli di Sfessania traf ich mich mit E. T. A. Hoffmann, Aber während der Ausführung dieser musikalischen Komödie habe ich doch erheblichen Abstand zu dem Capriccio Hoffmanns gewonnen. Manche Punkte blieben unverändert, anderes dagegen erfand und entwickelte ich völlig frei.
Mit diesen Worten leitet Gian Francesco Malipiero den Klavierauszug seiner Komödie in drei Akten und einem Prolog I CAPRICCI DI CALLOT ein.
Sowohl die bizarre Welt Hoffmanns als auch die grotesk-überzeichnende Bildersprache Callots kamen Malipieros Ästhetik entgegen.
Schon zu Beginn seiner Laufbahn hatte der 1882 in Venedig Geborene die Forderung nach einem generellen Wandel in der italienischen Musik aufgestellt: Malipieros besonderes Verdienst war es, zusammen mit einigen gleichaltrigen Kollegen - am bekanntesten Ottorino Respighi, Ildebrando Pizzetti und Alfredo Casella -, die wegen ihrer Geburt um den Beginn der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts als generazione dell'ottanta, also als Generation der Achtziger, als Gruppe zusammengefaßt wurden, die unreflektiert übernommene Ausschließlichkeit der Oper und ihrer oftmals billigen Effekte infragezustellen und aufzubrechen.
Eine der für Malipieros Entwicklung und sein späteres Schaffen entscheidendste, Begegnungen dürfte die, mit alten Musikhandschriften in Venedigs Biblioteca Marciana gewesen sein. Denn wenn auch die Besonderheiten des Musiklebens es mit sich gebracht haben, daß seine eigene Musik zu unrecht vergleichsweise wenig aufgeführt wird, so ist es in erster Linie ihm zu verdanken, daß die Werke Claudio Monteverdis wieder in ihrer größtmöglich originalen Gestalt auf unseren Spielplänen zu finden sind. Am Ende seines Lebens hinterließ Malipiero nämlich nicht nur hunderte von Kompositionen und unzählige Bücher und Aufsätze, sondern hatte sich auch in die Musikgeschichte eingeschrieben als Herausgeber sämtlicher Werke von Claudio Monteverdi und Antonio Vivaldi sowie einzelner Kompositionen von u. a. Cavalieri, Frescobaldi, Galuppi, Jomelli oder Tartini.
Diese Komponistennamen zeigen, daß in Malipieros Bewußtsein die italienische Musik aus der Zeit vor dem großen Primat der Oper dre wesentliche Rolle spielte. Sein künstlerisches Ziel war es, wie auch das seiner Kollegen Pizzetti und Casella, die alten Tugenden der vorromantischen Epochen wiederzubeleben.
Indem ich jade Verbindung zu den sogenannten «Ausgräbern» des 19. Jahrhunderfs abbrach, konnte ich zu den von unserer Musikalität noch nicht verseuchten Quelien zurücksteigen.
Interessanterweise gelangte er zu dieser Erkenntnis über die Orientierungsschwerpunkte Debussy und Strawinskij, die um 1910 gewissermaßen sa etwas wie Umwege in seiner kunstlerischen Entwicklung darstellten; Einflüsse ihrer Musik sind jedoch praktisch ab 1920 in semen Kompositionen nicht mehr - oder nurmehr sehr rudimentär - zu finden.
Ab 1910 lebte er vorwiegend in seiner Villa in der klein e n Bergstadt Asolo im Veneto dos Leben eines Einsiedlers - umgeben von einer Vielzahl von Tieren (es heißt sogar, daß ihm beim Komponieren ein Uhu auf der Schulter gesessen haben soll). Charakterlich wird or häufig als misanthropisch beschrieben, so daß es einigermaßen leicht nachvollziehbar ist, daß er zu seiner Arche Noah (ubrigens auch der Titel seines 6. Streichquartetts) ein besseres Verhältnis als zu den Menschen hatte. Und hierher paßt vielleicht auch die Anekdote, daß Malipiero am Vorabend einer seiner Hochzeiten, nachdenn er sich ausgemalt hatte, wie sein zukünftiges Leben an der Seite der Erwählten denn nun aussehen würde, die Koffer packte und auf Nimmerwiedersehen aus dem Leben seiner Braut verschwand.
Zwischenzeitlich ging er nach Rom, später nach Parma, um dort zu unterrichten, 1922 ließ er sich dann endgültig in Asolo nieder. Joachim Noller, einer der wenigen deutschen Malipiero-Forscher, schreibt dazu: Dieser abgelegene Ort symbolisierte, trotz Annäherungsversuchen im Faschismus, Malipieros gesellschaftliche Stellung und entsprach seiner skeptizistischen Geistesverfassung. Von 1932 bis 1952, davon dreizehn Jahre als Direktor, war er am Konservatorium von Venedig beschäftigt; sein wichtigster Schüler hier war Luigi Nono. Die verbleibenden einundzwanzig Jahre seines Lebens widmete er dann ausschließlich dem kompositorischen Schaffen. Als Malipiero am 1 . August 1973 im Alter von 91 Jahren starb, hinterließ er 35 Opern, 6 Ballette, 17 Symphonien (davon 11 numerierte), 18 mehr oder weniger große Oratorien und Kantaten, acht Streichquartette, unzählige Klavier- und Kammermusikwerke sowie eine Vielzahl von Liedern und weiteren Orchesterkompositionen. Unter den bedeutenden Komponisten dieses Jahrhunderts gehört Gian Francesco Malipiero neben vielleicht Heitor Villa Lobos und Josef Matthias Hauer zu den produktivsten.
Insbesondere im Bereich des Musiktheaters darf er als einer der ganz großen lnnovatoren des 20. Jahrhundert gelten. Sein Bestreben, die Gattung Oper von vordergründigen Verismo-Effekt der Verdi-Nachfolge zu befreien, führte auch zu erheblichen Umbewertungen in der Dramaturgie seiner Bühnenwerke. Ein Stichwort, das die italienische Oper vor Malipiero, Pizzetti und Casella kennzeichnete, war «passione» - damals im Sinne von «Leidenschaft». Malipiero nahm «passione» gleichfalls fur seine Werke in Anspruch, verwendete es allerdings im Sinne von «Leiden». Nicht mehr die vordergründig behauptete, rührselige Emotion steht im Vordergrund des Bühnengeschehens, sondern die tatsächliche Regung des Protagonisten.
Überdies gab Malipiero auch das Primat der Handlungskontinuität zugunsten einer aus den Eigenheiten des jeweiligen Stückes sich ergebenden freien Dramaturgie auf. Sein erstes totsächlich revolutionäres Bühnenwerk war das Triptychon L'ORFEIDE: ...eines Tages erschien mir der Teufel in Gestalt eines Librettisten, und ich konnte der Versuchung nicht widerstehen. Mein musikalisches Schaffen für die Bühne begann nun (1918) mit den SETTE CANZONI (2. Teil der Trilogie ORFEIDE, 1925 auch in Düsseldorf aufgeführt), und ohne eine weltumstürzende Erneuerung zu bewirken, hatte meine Arbeit nur den einen Ausgangspunkt: die Ergebung in das Schicksal, ohne Musik nicht leben zu können, - und die fast gänzliche Abschaffung (gänzlich allerdings mur in den SETTE CANZONI, aber in meinen anderen Werken in die engsten Grenzen verwiesen) des Rezitativs, das immer die Hauptschwierigkeit in der Oper ist und sein wird.
L'ORFEIDE beginnt mit dem Abschnitt LA MORTE DELLE MASCHERE (Der Tod der Masken), in dem die bekanntesten Figuren der commedia dell'arte sich vorstellen und das Spiel zu eröffnen scheinen, bis der antike Orpheus auftaucht und sie in einen Schrank einsperrt, um nun seinerseits das Personal der von ihm erzählten Geschichte vorzustellen: Menschen von der Straße, Alltagsfiguren, die sich nicht vom Publikum unterscheiden. Als er seine Figuren entlassen hat, beginnen aber die klassischen Theatergestalten sich wieder zu regen. Der zentrale Abschnitt, SETTE CANZONI (Sieben Gesänge), der sich direkt anschließt, erzählt keine durchlaufende Geschichte mehr. Vielmehr reihen sich sieben Einzelnummern aneinander, die thematisch vollkommen voneinander unabhängige Handlungen wiedergeben: Eine junge Frau verläßt wegen eines Bänkelsängers ihren blinden Ehemann, eine Mutter beweint ihren toten Sohn, ein Glöckner singt ein fröhliches Liedchen, während or die Feuerglocke läutet usw.
Malipieros Musiktheater ist formal wahrscheinlich das avancierteste der ersten Jahrhunderthälfte. Der große Teil seiner zahlreichen Bühnenwerke folgt dabei ganz eigenen, jeweils neu entwickelten Gesetzmäßigkeiten. Lediglich in GIULIO CESARE noch Shakespeare von 1936 und in ANTONIO E CLEOPATRA von 1938 schien der Komponist seiner Linie untreu geworden zu sein, indem er eine sozusagen «normale» Dramaturgie zuließ.
Mit I CAPRICCI DI CALLOT kehrte Malipiero zu seinen alten idealen zurück. Er schrieb an dem Stuck bis 1942, also mitten im II. Weltkrieg. Es verblüfft schon einigermaßen, daß während des großen Menschensterbens ein extrem feinsinniger, kultivierter Intellektueller sich daranmacht, eine - wie es im Untertitel heißt - Komödie zu schrelben. Bei genauerer Betrachtung des Inhalts wird man allerdings feststellen, daß on schenkelklopfende Heiterkeit à la Rossini uberhaupt nicht zu denken ist. Katia Czellnik, Regisseurin des Werkes an der Oper Kiel, hat in diesem Zusammenhang auf Stücke Anton Tschechows verwiesen, die auch Komödien heißen - ohne im entferntesten komisch zu sein.
Malipiero selbst hat sich zu seinem Verständnis der musikalischen Komödie folgendermaßen geäussert: Die Opera buffa verkörperf den Geist einer Epoche, die das starke Drama nicht begünstigte und die Fröhlichkeit ohne vulgäre Entartung liebte. Sie wurde in einer Musiksprache gestaitet, die dem Geist ihrer Zeit und infolgedessen auch der Komödie entsprach, deren Text sie benutzte. Ist es möglich, daß das musikalische Material aus der Zeit der Opera buffa für die Gegenwart passen könnte? Läßt sich der Geist des achtzehnten Jahrhunderts, im zwanzigsten wiederbeleben? Die musikalische Entwicklungt muß der spontane Ausdruck ihres Zeitaiters sein.
Heute ist der große Feind der Opera buffa jener musikalische Abklatsch, den man Operette nennt. Die Modernisierung der Opera buffa untersuchen heißt den modernen Geist studieren. Wenn Carlo Goldoni und Carlo Gozzi sich fur Venedig begeisterten, dann ergab das keine Schwänke. Sie besaßen die Kultur und Geistestiefe von Molière, Beaumarchais und anderer Franzosen. Die banalen Platitüden der Schwanke hatten Zuhörer, die über die Meisterwerke dieser Autoren lachten, kaum belustigt. Infolgedessen behauptete sich die Opera buffa auf einer Ebene mit der Komödie.
Bis zur ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts trat die musikalische Kunst lediglich in der Form von Kammermusik, Sinfonien, Oratorien und komischen wie ernsten Melodramen hervor. Die Popularmusik war ein Ding für sich, völlig verschieden von der authentischen Kunst. Die Lieder und Tänze der Dorffeste waren nobel im Charckter und stützten sich auf die Folklore; aus den Tänzen der Aristokratie war alle Vulgarität verbonnt. Erst die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, brachte dieses Unheil in die Musik. Die banalen Neuheiten der Variétés und Konzerthallen verbreiteten sich wie Schadenfeuer über die ganze Weit. Der wertloseste Kabarett-Song wird, wenn er ein Schlager ist, sogar durch Flugzeuqe verbreitet. Der Komponist ist häufig ein Mann, der nichts von der Musik versteht und nicht in der Lage ist, etwas von Kunst zu fernen. Es ist eine seltsame Erfahrung, wenn man sieht, wie diese leichten und geringen Werke, deren Text die ganze Weit vor wenigen Jahren zu Tränen rührte, jetzt albern und unmodern wirken, lächerliche und groteske Ergüsse.
Bevor eine Wiederbelebung der Opera buffa stattfinden kann, wird man auf die Grobheit der Operette und des Schwanks verzichten müssen. Die Musik ist eine delikate Kunst; sie wird von Vulgarität demoralisiert, stürzt sie in den tiefsten Abgrund der Entartung. Es ist wirklich an der Zeit, mit dieser Verwirrung ein Ende zu machen; wir mussen aufhören, gewisse Klongproduktionen mit dem Namen Musik zu bezeichnen.
Vecchis Amfiparnasso ist ein volikommenes Meisterwerk, weil seine Schönheit nicht auf die historische Darstellung einer Epoche beschränkt ist, sondern jene Eigenschaften unsterblicher Kunst besitzt, die es in die Lage versetzen, seine Zeit zu überdauern. In Italien ist die Opera buffa vollig aufgegeben worden. Selbst Donizettis Don Pasquale und Verdis Falstaff haben nicht die Popularität jener musikalischen Melodromen erreicht, die voll alberner Episoden sind. Die Möglichkeiten der Opera buffa hängen von einer Wiederbelebung des Geistes ab, Schläft dieser Geist nur, dann ist eine Wiederbelebung möglich; doch wenn er tot ist, dann ist auch die Opera buffa tot.
Malipieros tiefer Skepsis gegenüber dem schlafenden Geist der Epoche (den er eben doch, ohne es auszusprechen, für tot hält) ist es zuzuschreiben, daß I CAPRICCI DI CALLOT, wohlgemerkt seine Deutung von Hoffmanns Prinzessin Brambilla, anders ais Braunfels' Vertonung eben nicht zu einer wirklichen Buffa werden konnte.
Es überwiegt die Groteske, dos Skurrile und Verstörende. Ähnlich, wie Hoffmann inspiriert wurde für seine Novelle durch die Radierungen Callots, ließ sich Malipiero inspirieren durch Hoffmann, um die Figuren der Radierungen in ihren Absonderlichkeiten auf der Bühne lebendig werden zu lassen. Das Publikum der Uraufführung am 24. Oktober 1942 in Rom verstand aber auch die Doppelbödigkeiten, die nicht unabhängig von der Entstehungszeit zu sehen sind.