BASLER ZEITUNG

 

 

Basler Zeitung, 4. April 2000

 


Andreas Klaeui

Eine Belcanto-Sängerin
auf dem Höhepunkt

Donizettis Oper «Anna Bolena»
mit Edita Gruberova im Zürcher Opernhaus

Seine 35. Oper wurde sein erster grosser Triumph: Viel- und Schnellschreiber Donizetti hatte sich besonders Mühe gegeben. «Da ihm, trotz der verspäteten Ablieferung von Romanis Libretto, noch ein voller Monat zum Komponieren blieb, konnte er sich mit ungewöhnlicher Musse auf seine Premiere vorbereiten», schreibt Norbert Miller trocken. Mit «Anna Bolena» gelang Donizetti kurz vor Rossinis Abgang von der Opernbühne der Durchbruch, es gibt hier mitreissende Melodien und elegische Concertato-Ruhepunkte und fünf Jahre vor «Lucia di Lammermoor» eine atemberaubende Wahnsinnsszene. Doch wer kennt heute noch «Anna Bolena»? Im 19. Jahrhundert galt die Oper neben «Lucia» als Hauptwerk Donizettis, später wurde sie als altmodisch angesehen und geriet in Vergessenheit, bis die Mailänder Scala sie 1957 aus der Versenkung holte. In einer berühmten Inszenierung von Luchino Visconti, mit Gianandrea Gavazzeni am Pult, sang eine Callas auf dem Höhepunkt ihrer stimmlichen und darstellerischen Fähigkeiten. Seitdem wird die Oper wieder mehr gespielt, die Scala hat 1982 sogar ihre Visconti-Inszenierung rekonstruiert, und 1995 gab es in München eine Neuinszenierung mit denselben Protagonistinnen wie jetzt in Zürich.
Boleyn und Bolena
Die Handlung ist schnell erzählt: Eine nicht mehr erwünschte Königin wird im Stich gelassen und schliesslich hingerichtet, wozu ihre Rivalin, ein selbstsüchtiger König, ein schurkischer Höfling und ein naiver Schwärmer, der im Ungestüm alles verdirbt, je ihr Teil leisten. Librettist Romani hat sich nicht lang mit historischer Wahrscheinlichkeit aufgehalten (die Geschichte von Anne Boleyn, der zweiten Frau von Heinrich VIII. und Mutter der späteren Elizabeth I., die der Staatsraison und Heinrichs Leidenschaft für Jane Seymour zum Opfer fiel); ihm ging es um klar konturierte Charaktere und kontrastierende Affekte. Der Regisseur der Zürcher Inszenierung, Gian Carlo del Monaco, gibt nun der Geschichte wieder einen historisierenden Rahmen und holt zugleich ein Maximum an psychologischer Analyse aus den Personenkonstellationen heraus.
Giovanna ist hier weniger die «naiv-sentimentale» mit sich ringende Geliebte eines durchtriebenen Königs als die laszive Aufsteigerin, die bewusst mit dem Feuer spielt und sehr sicher gegenüber dem König auftritt. Enrico wiederum, der Sonnenbrillenträger, der sich nicht in die Augen blicken lässt, bis Anna in der Falle ist, ist weniger der harte, rachsüchtige König als der einfach zu berechnende verwöhnte Egoist. So wird die Kollision der Protagonistinnen zum zentralen Thema der Inszenierung - wobei Anna weniger das wehrlose Opfer ist als die Frau, die ihren eigenen Weg auf den Thron bereits über die Leiche einer Rivalin gegangen ist. Sie ahnt den unausweichlichen Verlauf der Geschichte schon in der ersten Szene und erschrickt darob - und gewinnt tragische Grösse. Ihre Legitimation ist die kleine Elizabeth, die alles beobachtet und immer eine Anna-Puppe mit sich herumschleppt. Durch sie wird sie überleben. In der Kerkerszene, als die Puppe schon keinen Kopf mehr hat, schert die kleine Elizabeth ihrer Mutter die Haare, sie ist nicht sentimental, sie wird eine grosse Königin werden.
Im kostbaren Einheitsbühnenbild von Mark Väisänen, das durch die vier Jahreszeiten führt, ist der königliche Palast schon ein Kerker. Öffentlichkeit ist nach Wunsch auf den Galerien zugelassen, die Szene ist dominiert vom königlichen Motto: Dieu et mon droit. Doch in Wahrheit dominiert nur eine: die Primadonna assoluta. Es ist der Abend der Gruberova. Auch wenn ihr Vesselina Kasarova (Giovanna) mit strahlkräftigem Mezzo fast das belcantistische Wasser reichen kann, auch wenn László Polgár ein eindrückliches Rollendebüt als kerniger, in jedem Wort textverständlicher Enrico gibt. Irène Friedli ist ein Smeton zum Verlieben, Reinaldo Macias singt den Percy mit nicht sehr flexiblem «italienischem» Tenor, Oliver Widmer und Miroslav Christoff entledigen sich der kleinen Partien mit Anstand.
Banda und Cabaletta
Paolo Carignani dirigiert das Opernhaus-Orchester mit klangschönen Soli (Flöte!) und einer echten «Banda» in fliessenden, kantablen Tempi. Aber die Gruberova! Technische Brillanz dient ihr nur, den Affektgehalt zu steigern. Jede Phrase ist lebendiger stimmdarstellerischer Ausdruck. Dazu kommt, dass sie fabelhaft spielt. Und dies Piano! Wie sie in der Wahnsinnsszene mit einem überirdischen «Piangete voi» einsetzt. Und wie sie dann mit einer winzigen Fioritur das ganze erinnerte Hochzeitsglück evoziert. In der anschliessenden Cabaletta, als Giovanna schon halb auf dem hohen Ross ist und Enrico wieder Sonnenbrille trägt, sehen wir Anna Bolena noch einmal in ihrer tragischen Grösse - und die Gruberova auf einem Höhepunkt ihrer stimmlichen und darstellerischen Fähigkeiten.