Neue Zürcher Zeitung, 4. april 2000

 


Peter Hagmann

Die Kunst, das Leben - oder beides

«Anna Bolena» von Gaetano Donizetti im Opernhaus Zürich

Das Bild ist, im grossen ganzen, dasselbe wie bei «Roberto Devereux», der Donizetti-Ausgrabung, die das Opernhaus Zürich vor knapp drei Jahren auf den Spielplan gesetzt hat. Ein düsterer Einheitsraum, begrenzt durch massive Wände, wie sie sich in einer mittelalterlichen Burg finden mögen. Im Hintergrund eine Öffnung, die wechselnde Perspektiven ermöglicht. Und auf halber Höhe, wenn es sein soll und durch das partielle Hochziehen der Wände sichtbar gemacht wird, ein umlaufender Theaterbalkon in üppigem Samt; da sitzt der Chor, der die Öffentlichkeit bildet: die Öffentlichkeit eines Theaterpublikums.
Das hat seine Schlüssigkeit - und nicht nur, weil auch bei «Anna Bolena», der Tragedia lirica von Gaetano Donizetti, jenes Team am Werk ist, das schon «Roberto Devereux» auf die Bühne gebracht hat. Steht nämlich hier, in dem Stück von 1837, Elisabeth I. von England im Zentrum, geht es dort, bei der in Zusammenarbeit mit dem Librettisten Felice Romani entstandenen Oper von 1830, um deren Mutter. Um Anna Boleyn also, um derentwillen der als besonders rücksichtslos geltende König Heinrich VIII. gegen jede Konvention gehandelt: seine erste Gattin Katharina von Aragon nach achtzehn Jahren Ehe verstossen und den Bruch mit der katholischen Kirche vollzogen hat. Um den Zusammenhang vollends deutlich zu machen, lässt der Regisseur Elisabeth als königliches Kind mit Puppe in stummer Präsenz an dem grausamen Geschehen Anteil haben.
Und grausam ist das Geschehen. Denn so glühend der König um seine Geliebte geworben hatte, so rasch und gründlich hat er sich, war sie endlich Ehefrau und Königin geworden, von ihr abgewandt. Jane Seymour - Giovanna heisst die Hofdame und Vertraute der Königin bei Romani und Donizetti - war die neue Flamme des Herrschers. Und so musste eine Intrige her, in deren Rahmen die Königin des Ehebruchs bezichtigt und mitsamt ihren Vertrauten dem Henker überantwortet werden konnte. Das ist, wie bei «Roberto Devereux», eine Geschichte aus dem 16. Jahrhundert in einer Vertonung aus dem 19. - und könnte doch, in ihrer Grundform, in einer mehr oder weniger nahen Gegenwart spielen. Das zu zeigen nimmt sich die neue Produktion des Zürcher Opernhauses vor.
So sind denn, während das Bühnenbild von Mark Väisänen die archaischen Momente betont (und dabei hie und da auch in Kitsch verfällt), die sieben Personen des Dramas von Maria-Luise Walek in Kostüme gekleidet, die das Geschehen in eine bürgerliche Gesellschaft verlegen und zudem Assoziationen an mafiose Zustände erwecken. Und so versucht der Regisseur Gian-Carlo del Monaco nach Massen, die Figuren dieser tödlichen Maschinerie als Menschen von Fleisch und Blut erscheinen zu lassen - was ihm unterschiedlich gelingt. Enrico ist hier nicht der schrankenlos selbstsüchtige Potentat, nicht der Inbegriff des Bösen, dazu verfügt László Polgár stimmlich über zu wenig metallene Schärfe und in seinem Spiel über zu wenig Brutalität. Die Wärme in seinem Timbre lässt an diesem König vielmehr auch den verzweifelt suchenden Mann hervortreten, der um seiner selbst, nicht um der Funktion willen geliebt werden möchte - ein ebenso interessanter wie diskutabler Ansatz. Und von den Figuren, die der König für seine Intrige benützt, bleiben Rochefort (Oliver Widmer), Smeton (Irène Friedli, die ihre Romanze wunderbar singt) und Hervey (Miroslav Christoff) einigermassen blass, während Percy, die Jugendliebe Annas, gegen die Musik Donizettis als ein Südländer erscheint, der sich in zappelnder Verzweiflung verzehrt - Reinaldo Macias bewältigt seine Aufgabe dennoch mit viel tenoralem Schmelz.
Mag sein, dass sich der Regisseur von den Auffassungen der Protagonistin hat inspirieren lassen. Edita Gruberova hat die Anna Bolena 1994 für eine CD-Einspielung und ein Jahr später an der Bayerischen Staatsoper München gesungen. In beiden Fällen war das exorbitante Espressivo der Partie, das in einer grossangelegten Wahnsinnsarie gipfelt, in funkelnde Virtuosität gefasst. Danach war in einer Kritik allerdings wieder von der Sterilität des Belcanto die Rede, woran sich die Sängerin entschieden gestossen hat. Die auf die Spitze getriebene Technik diene doch keineswegs sich selbst, sondern in jedem Fall dem Ausdruck von Gefühlen. Das scheint sie in Zürich nun doppelt unterstreichen zu wollen. Nicht so sehr die gläserne Perfektion, sondern die ganz direkte Emotion steht daher im Vordergrund. Und so geht sie im zweiten Finale ganz an die Grenzen und bisweilen darüber hinaus. Gesprochene, geschrieene Töne kommen ins Spiel, aufgerauhte Kehligkeit bricht sich in den Momenten höchster Verzweiflung Bahn. Da hat sich eine der führenden Belcanto-Spezialistinnen - notgedrungen? - neue Dimensionen des Ausdrucks erschlossen. Ihre erste Cavatina, «Come, innocente giovane», bringt sie aber noch immer zu unnachahmlicher Vollendung.
Also auch in dieser Hinsicht: Leben vor Kunst und der mit ihr verbundenen Künstlichkeit. So hat es schon Maria Callas bei der ebenfalls auf CD überlieferten Wiederentdeckung von «Anna Bolena», 1957 an der Mailänder Scala, gesehen. Mit einem gewissen Recht wird in diesen interpretatorischen Ansätzen darauf hingewiesen, dass sich Donizetti in «Anna Bolena» von den Idealen der gern etwas statisch wirkenden Belcanto-Oper abzusetzen beginnt. Nicht die grosse Arie, nicht die unendlich gekräuselte Fioritur steht bei diesem Werk im Vordergrund, sondern die emotional-dramatische Spannung, die sich in sorgfältig gesteigerten Szenen aufbaut. Das betont auch der Dirigent Paolo Carignani, unter dessen Leitung das Orchester der Oper Zürich, das an der Premiere noch nicht restlos sicher wirkte, die Musik Donizettis in kräftig federnde Artikulation und leuchtende Farben fasst. Wie sich Belcanto und Lebensnähe in aufregender Weise verbinden können, das zeigt jedoch Vesselina Kasarova, wie schon in München Vertraute und Rivalin der Protagonistin. Auf der Höhe ihres Könnens, technisch absolut souverän und zugleich hochexpressiv lässt die Sängerin nachvollziehen, in welch quälender Ambivalenz Giovanna Seymour zwischen Wollen und Zögern, zwischen Ehrgeiz und Loyalität steht.
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