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Sven-Eric Bechtolf

 

Der Regisseur Sven-Eric Bechtolf nennt zwei «Königswege», Bergs «Lulu» auf der Bühne zu zeigen. Zum einen ist es die Sicht auf die Titelfigur als Projektionsfläche der Männer, zum anderen der Versuch, Lulu aus ihrer Lebensgeschichte heraus zu erfassen, die zwar niemals bis ins Letzte entschlüsselbar sein wird, die aber aus der Handlung durchaus nicht ausgeklammert ist. Bei den zahlreichen Kürzungen, die Berg vornehmen musste, um aus den umfangreichen Dramen Wedekinds ein Opern libretto zu gewinnen, sind die verbliebenen Anspielungen wichtige Schlüsselstellen. So erfahren wir etwa, dass Dr. Schön Lulu als Zwölfjährige vor dem Café Alhambra nachts zwischen zwölf und zwei aufgelesen hat, dass er sie einer «Frau» übergab, deren «beste Schülerin» sie war. Dr. Schöns Sohn Alwa wirft seinem Vater vor, er habe an Lulu nach dem Tod der Mutter nicht recht gehandelt, und auf die Vorwürfe Dr. Schöns, Lulu verpeste seinen Lebensabend, antwortet sie: «Wenn du mir deinen Lebensabend zum Opfer bringst, so hast du meine ganze Jugend dafür gehabt.» 
Mit deutlichen Bildern wird diese Jugend in der Zürcher Neuinszenierung immer wieder erinnert, und auch der Film zur Verwandlungsmusik im zweiten Akt nach der Ermordung Dr. Schöns durch Lulu gilt der gemeinsamen Vergangenheit der beiden. Zumal in der zweiaktigen Fassung, die die geplante strenge Symmetrie aufbricht, sind solche Vergegenwärtigungen für Sven-Eric Bechtolf spannender als die von Alban Berg hier vorgesehene filmische Bebilderung mit der Verhaftung Lulus und ihrer Flucht aus dem Gefängnis, die ohnehin in der nächsten Szene geschildert werden.
Zu den Bedenken, die Berg lange zögern liessen, die Komposition der «Lulu» in Angriff zu nehmen, gehörte «die trotz unserer guten Bearbeitungsideen nach wie vor bestehende grosse Schwierigkeit, einen so aufs Dialektische gestellten Text wie den Wedekinds auf die Opernbühne zu bringen, wo man kaum ein Wort versteht.» (Berg an Soma Morgenstern)
Sven-Eric Bechtolf ist es in seiner Inszenierung gerade daran gelegen, dieser Schwierigkeit einerseits mit ganz klaren Bildern zu begegnen, andererseits die Dialektik nie aus den Augen zu verlieren. Bei genauem Lesen ergeben sich immer wieder neue und verblüffende Bezüge, die die Doppelbödigkeit von Textbuch und Partitur evident werden lassen.
In der Urfassung von Wedekinds «Lulu», die erst 1988 zur Veroffentlichung gelangte, Berg aber von Karl Kraus zur Verfügung gestellt worden war, ist Lulu noch nicht in dem Masse die femme falale der später erfolgten Bearbeitung, sondern das Opfer ihrer naiv-unschuldigen Sehnsucht, in aller Freiheit die Liebe auskosten zu kön nen. Diese Sichtweise, die in Bergs Oper wieder klar spurbar wird, ist auch für den Regisseur ausschlaggebend - die Realität eines Albtraumes herzustellen sein Ziel.
© Magazin Opernhaus Zürich. Testo pubblicato con il consenso scritto della direzione della Dramaturgie.