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MAGAZIN

OPERNHAUS ZÜRICH

LULU
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Im Oktober 1888 wird im Pariser Nouveau Cirque die Pantomime «Lulu» von Felicien Champsaur uraufgeführt. Immer wieder gespielt, ist sie auch Frank Wedekind bekannt, der zu jener Zeit gleichfalls Pantomimen in Paris zu schreiben beginnt. Allerdings hat Champsaurs Pantomime mit Wedekinds späteren Lulu-Dramen - «Der Erdgeist» und «Die Büchse der Pandora» - nur den Namen der Titelfigur gemein.
Hesiod überliefert den Mythos der Pandora: Einst formte Hephaistos auf Befehl des Zeus die Pandora aus Erde und Wasser zu einer unsterblich-schönen Frau und hauchte ihr mit seinem Feuer Leben ein: es entstand der «Erdgeist». Athene, Aphrodite, Hermes und die übrigen Götter statteten Pandora mit allen Gaben der Verführung und des Betrugs aus. So schickte Zeus die Pandora auf die Erde, um die Menschen dafur zu bestrafen, dass Prometheus ihnen das Feuer gebracht hatte. Er gab ihr eine Büchse mit auf den Weg, die alle Ubel und Plagen der Welt enthielt. Die Büchse wurde geöffnet...
In Wedekinds Lulu ist die Pandora als «Urgestalt des Weibes» wieder auferstanden. Eine «Monstretragödie» nannte er in der ursprünglichen Fassung «Die Büchse der Pandora», in der er Lulus Aufstieg aus der Gosse in die bürgerliche Gesellschaft und ihren durch diese erzwungenen Abstieg ins Prostituiertenmilieu, in dem sie schliesslich Jack the Ripper zum Opfer fällt, als schauerliche Moritat gestaltete - mit fratzenhaften, clownesken, verblutenden Charakteren, Masken und Monstern.
Doch Wedekinds schonungslose Darstellung sexueller Verstrickungen kollidierte mit den gesellschaftlichen Konventionen seiner Zeit. Auch nach der Aufsplitterung der «Monstertragödie» in die Dramen «Erdgeist» und «Die Büchse der Pandora» erregte letzteres den Unwillen der Zensur, das Buch wird beschlagnahmt.
Einer von Karl Kraus initiierten Privataufführung 1905 in Wien ist es zu verdanken, dass der junge Alban Berg Kenntnis von diesem Werk erhielt. Ihn faszinierte «die neue Richtung - die Betonung des sinnlichen Elements». 1928 entschloss er sich zur Komposition einer Oper, in der er dieses Drama mit Wedekinds «Erdgeist» verband. Aus den insgesamt sieben Aufzügen der beiden Tragödien ist so ein dreiaktiger Text entstanden, dessen symmetrischer Bau die ursprunglichen Proportionen getreu wiedergibt. Die vier Akte des «Erdgeist» bilden den in drei Szenen geteilten ersten Aktvon Bergs Oper und die erste Szene seines zweiten Aktes, die drei Akte der «Büchse der Pandora» die zweite Szene des zweiten Aktes sowie den dritten Akt, den Berg jedoch nicht mehr vollendete.
Bei der Wahl dieses Stoffes mögen ihm jene Worte erinnerlich gewesen sein, mit denen Karl Kraus in seinem Einführungsvortrag zu der Wiener Privataufführung das Werk charakterisierte: «...die Tragödie von der gehetzten, ewig missverstandenen Frauen anmut, der eine armselige Welt bloss in das Prokrustesbett ihrer Moralbegriffe zu steigen erlaubt. Ein Spiessrutenlaufen der Frau, die vom Schöpferwillen dem Egoismus des Besitzers zu dienen nicht bestimmt ist, die nur in der Freiheit zu ihren höheren Werten emporsteigen kann.»
Im Juni 1929 schreibt Anton Webern an Alban Berg: «Deine Entdeckungen auf dem Gebiet der <Reihe>-Konstruktion scheinen mirvon grösster Bedeutung: denn die Möglichkeit aus der <Urreihe>, durch Permutation Reihen zu gewinnen, die zwar neu sind, aber doch in ursprünglichem Zusammenhang mit jener (der Urreihe) stehen,... erscheint mir für den Zusammenhang von weitestgehendem Nutzen; ja vielleicht ist das die günstigste Lösung dieses Problems.»
Das «Problem», von dem hier die Rede ist, betrifft die Unmöglichkeit, mit der von Schönberg vorgegebenen «Methode der Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen» grösser dimensionierte Werke zu schaffen. Genau das aber plante Berg in seiner Oper «Lulu» zu verwirklichen. Im Unterschied zu Webern, der vorschlug, neben der Grundreihe «dann so viele Reihen aufzustellen, als ich eben brauchte», war Berg auf die Idee verfallen, durch bestimmte Ableitungs verfahren aus der Grundreihe weitere zu gewinnen, sodass die thematische Einheit des Werkes stets gewahrt blieb.
Faszinierend ist es, die Prozesse zu verfolgen, denen Berg diese Reihe unterwirft, und wie es ihm gelingt, durch unterschiedliche Grade der Verwandtschaft die einzelnen Figuren u. a. in ein hierarchisch geordnetes Abhängigkeitsverhältnis zu Lulu zu bringen, der an jener Stelle die reinste Form der Grundreihe zugeordnet wird, an der sie sich selbst re flektiert: «Wenn sich die Menschen um meinetwillen umgebracht haben, so setzt das meinen Wert nicht herab... Ich habe nie in der Welt etwas anderes scheinen wollen, als wofür man mich genommen hat. Und man hat mich nie in der Welt für etwas anderes genommen, als was ich bin.»