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FRANZ WELSER-MÖST

 

Für den Zuhörer - so Franz Welser-Möst - ist es aber vollkommen irrelevant, ob er Alban Bergs individuellen und ausgeklügelten Umgang mit der Reihentechnik in der «Lulu» in allen Kombinationen verfolgen kann, denn abgesehen davon, dass die vom Komponisten geschaffenen Bezüge auch ohne jede Analyse sich dem Bewusstsein vermitteln, schätzt er an Berg vor allem den Umstand, dass dieser zugunsten des Ausdrucks jederzeit die Regeln zu brechen be reit ist: Der geniale Dramatiker, dessen Ziel es war, «dem Theater zu geben, was des Theaters ist» stellt den Inhalt immer über die Form, nie gerät das System zum Selbstzweck. So ist er der einzige Komponist des Kreises um Arnold Schönberg, in dessen Werken tonale Bezüge aufscheinen; in der «Lulu» ganz bewusst gesetzt etwa im «harten» Dur Charakter der Reihe des Dr. Schön, des «Gewalimenschen», oder im «elegischen» Moll Charakter jener von Alwa. In einem Gespräch mit Schönberg äusserte Berg, dass er als dramatischer Komponist nicht glaube, auf die Möglichkeit der kontrastierenden Charakterisierung unter gelegentlicher Zuhilfenahme von Dur und Moll verzichten zu können.
Der Aufbau der Partitur zeigt als wichtigstes Konstruktionsprinzip die Spiegelsymmetrie, die zunächst die grossformale Anlage betrifft. Exakt in der Mitte des zweiten Aktes findet sich jener Umschlappunkt, der vom Aufstieg zum Abstieg der Titelfigur führt. Diese vor- und rückläufige Bewegung bestimmt aber auch die Gliederung im Detail, etwa all jene kleineren kompositorischen Formen, mit denen die Oper dicht durchwoben ist. Für Franz Welser-Möst gebört es zu den bezeichnendsten Merkmalen der Partitur, dass sich Berg hier sozusagen der gesamten Grammatik der Musikgeschichte bedient, um sie seinen Intentionen anzuverwandeln.
Anders als im «Wozzeck», wo der Charakter der einzelnen Szenen die Wahl des musikalischen Formtyps bestimmt und dann dessen musikalischen Gesetzen gehorcht, dienen in «Lulu» die gewählten Formen der Charakterisierung von Personen und Situationen und werden je nach Fordernissen der Dramaturgie auch aufgebrochen.
Zur Verdeutlichung der Beziehung zwischen Dr. Schön zu Lulu beispielsweise ver wendete Berg die Sonatenform, die - durch zahlreiche Einschübe unterbrochen - aufgeteilt auf die zweite und dritte Szene des 1. Aktes exponiert und durchgeführt wird. Diese Form - so Franz Welser-Möst - ist in der klassischen Musik Ausdruck der per fekten Entwicklung eines Materials und perfekt «ent»-wickelt wird hier die schon lange Jahre zuruckliegende Verbindung von Lulu und Dr. Schön. Gleichzeitig wird unter der Oberfläche spürbar, wie Lulu die scheinbare Selbstsicherheit des Dr. Schön, die sich zum Beispiel in dem als Gavotte gestalteten Seitenthema manifestiert, unterläuft und gegen ihn wendet.
Der Sonatenform des 1. Aktes korrespondiert das - Alwa zugeordnete - Rondo des 2. Aktes, das ebenso wie die Sonate mehrfach unterbrochen, sich auf die beiden Szenen dieses Aktes verteilt. Nach Alban Berg steht dieses Rondo dafür, «wie der Künstler Lulu sieht - wie sie gesehen werden muss, damit man versteht, dass sie - trotz allem Fürchterlichen, das durch sie geschieht - so geliebt wird.»
Zu den die Form konstituierenden Baustei nen gehört darüber hinaus die Behandlung der Singstimme. Exemplarisch vorgeführt wird das schon im Prolog des Tierbändigers, der sich vom tonlosen Sprechen, über «halb gesungen», «parlando gesungen» bis zum vollen Einsatz der Singstimme steigert, um dann in umgekehrter Reihenfolge wieder abzuklingen. Gleiches lässt sich in der « Monoritmica » - in der sich der Selbstmord des Malers vollzieht - beobachten, wobei hier parallel zum Aufstieg und Abstieg der stufenweise vom Sprechen bis zum Singen gegliederten Abschnitte die Singstimme bis in die höchste Lage bzw. an die unterste Grenze gefuhrt wird.
Spannend dabei ist auch zu beobachten, welche Szenen Berg als gesprochene Dialoge gestaltet, wird in ihnen doch besonders evident, wie die Per sonen jeweils aneinander vorbeireden: Etwa zu Beginn der zweiten Szene, in der die Beziehung zwischen Lulu und dem Maler eindeutig etabliert wird. Dabei sind die Dialoge aber nicht als Bindeglieder zwischen den Nummern gestaltet, sondern integrativer Bestandteil der Komposition. Im erwähnten Fall wird das gesprochene Wort nahtlos in Gesang uberführt. Umgekehrt wird im zweiten Akt die Musik vor den in sie eingebetteten Dialogen derart ausgedünnt, dass sie schliesslich in das gesprochene Wort mundet.
«Lulu» ist für den Chefdirigenten eine zutiefst romantische Oper und zugleich das personlichste Werk, das wir von Alban Berg besitzen. Spätestens seit Adornos Analyse der «Lyrischen Suite» wissen wir um die geheimen Programme in seinen Werken und die «Lulu» macht darin sicher keine Ausnahme. Neuere Forschungen (Olaf Winnecke, «Das geheime Programm in Alban Bergs 'Lulu', Wien 1996) haben über die schon bekannte Tatsache der Selbstidentifikation des Komponisten Alban Berg mit dem Komponisten Alwa Schön der Oper hinaus sehr viel weiterreichende Bezüge zu Bergs Autobiographie festgestellt, die insbesondere auf eine Aularbeitung der Beziehung Bergs zu seinem «Übervater» Schönberg in Gestalt des Dr. Schön abzielen.
Für den Cheldirigenten sind diese Untersuchungen plausibel, da er die Gründe dafür, dass «Lulu» von Berg nicht vollendet wurde, weniger darauf zurückführt, dass der Tod dem Komponisten die Feder aus der Hand genommen hat, sondern dass Alban Berg vor den letzten Konsequenzen seines Opernplanes selbst erschrak: Die Idee, im 3. Akt Lulus Freier als Reinkarnationen ihrerfrüheren Männer, des Medizinalrates und des Malers, auftreten zu lassen und ihren Mörder, Jack the Ripper, mit Dr. Schön gleichzusetzen, stammt von Berg.
Am 6. Mai 1934 schreibt er an Webern: «Dass ich den Schlusspunkt in der 'Lulu'-Komposition gesetzt habe, hat mich nicht so restlos beglückt, wie das anzunehmen wäre. Ich habe gerade in den vorletzten Partien einiges nur flüchtig skizziert, die Ausfuhrung für später verschoben... Die sich über Jahre hinaus ausdehnende Arbeit und von vorneherein doch nicht ganz uber blickbare musikalische Entwicklung zwingt mich nun zu einer Rückschau...»
Ausser Frage steht für Franz Welser-Möst auch, dass in die Figur der Lulu die keine bestimmbare Person, sondern ein Zustand ist, aus dem sich die anderen herausfiltern - Bergs vielfaltige Beziehungen zu Frauen mit eingellossen sind.
Mit einigem Recht kann diese Oper als eine Autobiographie des Komponisten angenommen werden, das ständig präsente Symbol des Spiegels als der Versuch, sich selbst zu erkennen, verstanden werden. Dass sich dabei das Leben letztendlich nicht in eine perfekte abgeschlossene Form zwingen liess, macht die zweiaktige Fassung viel spannender. Ein Torso - in diesem Falle gleichsam ein zerbrochener Spiegel - kann sehr viel ausdrucksstärker sein als ein abgerundetes Werk, zumal sich mittlerweile ja in der Praxis erwiesen hat, dass der nachträglich hergestellte dritte Akt durchaus Schwächen aufweist. Mit der von Berg hinterlassenen Fassung sind wir - da ist sich Franz Welser-Möst sicher - dem Geheimnis «Lulu» näher auf der Spur.
© Opernhaus Zürich. Pubblicato con il consenso scritto della direzione della Dramaturgie.