Peter Hagmann
Traum und Wirklichkeit

«La Damnation de Faust«
von Berlioz im Opernhaus Zürich

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Kein Regisseur ist um diese Aufgabe zu beneiden. «Légende dramatique« nennt sich «La Damnation de Faust« von Hector Berlioz, und damit ist ein Teil der Schwierigkeiten angedeutet. Es wird etwas erzählt, die Geschichte von Faust, Mephistopheles und Margarethe, aber noch viel mehr wird vorausgesetzt, denn das Geschehen vermittelt sich in eigenwillig ausgewählten und dramaturgisch nicht unbedingt stringent zusammengefügten Bruchstücken. Und es gibt eindeutig mehr zu hören als zu sehen: Instrumentalmusik wie etwa den berühmt gewordenen Ungarischen Marsch, Männerchöre wie das Trinklied, die blasphemische Amen-Fuge und den Auftritt der Studenten in Auerbachs Keller, am Ende dann ausgedehnte, aber nur wenig belebte Tableaus wie den Höllenritt, das Pandämonium und Gretchens Verklärung. Alles, was - vom spannend ausgebreiteten Konflikt bis zur subtil gezeichneten Bühnenfigur - die Oper zur Oper macht, fehlt hier; «La Damnation de Faust« in eine schlüssige Bühnenversion überzuführen, fordert daher schon höhere Kunst.
Unter diesen Voraussetzungen haben sich der Regisseur Erwin Piplits und seine Ausstatterin Ulrike Kaufmann, die den seltsamen Solitär von Berlioz für das Opernhaus Zürich in Szene gesetzt haben, mehr als tapfer geschlagen; warum ihnen am Ende einer insgesamt erfolgreichen Premiere der geballte Zorn des Publikums entgegenschlug, ist jedenfalls nicht recht auszumachen. Berlioz sieht in seiner Partitur eine Reihe komplexer Bilder in raschen Wechseln vor.
Piplits und Kaufmann, ihrer szenischen Handschrift auch hier treu, reagieren darauf mit einfachen Dispositionen: mit einem schwarzen Bretterverschlag, zu dem sie sich durch das Vorspiel zu Goethes «Faust« inspirieren liessen, und mit transparenten Stoffen, die das Geschehen zwischen innen und aussen, zwischen Realität und Einbildung schwanken lassen. Wirkungsvoll wird dabei mit Versatzstücken aus der Tradition gearbeitet, mit wehenden Fahnen und theatralisch gerafften Vorhängen, und wie dem ganz schwarz gewandeten Mephistopheles die scharf nachgezogenen Augenbrauen nicht fehlen, hüllt sich Faust immer wieder in seinen rot gefütterten Umhang.
Mag er im Einzelnen - was die Ausgestaltung der vierhandelnden Figuren betrifft - nicht immer glücklich verwirklicht sein, lässt dieser Ansatz doch der Musik ihr Recht. Einer überaus phantasievoll erfundenen, immer wieder zu Momenten von berührender Schönheit gelangenden, oft auch in ungewohnte Instrumentationseffekte gekleideten Musik, die unter der Leitung von Philippe Auguin ihr volles Potenzial entfaltet. Der Nürnberger Generalmusikdirektor, kurzfristig für den erkrankten Christoph von Dohnányi eingesprungen, geht die Partitur vielleicht etwas unauffällig an - mag man denken, wenn man hört, wie handzahm der Ungarische Marsch bleibt. In der Folge wird man aber gewahr, dass Auguins Deutung weniger auf den scharfen Lichteinfall setzt und damit nicht so sehr das für die Entstehungszeit des Werks (1845/46) sensationell Neue unterstreicht, als dass sie - unaufgeregt und in natürlichem Fluss - auf den klassizistischen Grundzug der Partitur hinweist. Musikalisch ein strenger Abend - aber auch voll von Sinnlichkeit, wenn man an die vielen Raumwirkungen denkt oder an die wunderbaren Stellen, an denen eine dunkle Bratsche, ein klagendes Englischhorn zu Protagonisten werden. Das Orchester der Oper Zürich agiert jedenfalls auf der Höhe seines Könnens und bleibt auch in den klanglichen Eruptionen dem Raum angemessen.
Eine einfache Kantilene der Bratsche eröffnet das Stück, das Cello greift antwortend ein - und schon schlägt die Stunde für Faust, einen französischen Tenor. Mit der Diktion steht es bei Zoran Todorovich nicht immer zum Besten, doch meistert er die Klippen der anspruchsvollen Partie in jedem Augenblick. Sein Timbre wird von festem Glanz geprägt, der nicht nur im Forte zur Geltung kommt, weshalb Todorovich das dynamische Spektrum seiner Rolle in ganzer Breite auszuschreiten vermag. Und wenn er beim Duettieren mit Margarethe das dreigestrichene Cis erklimmt, lässt er erleben, wie extrem Berlioz komponiert hat. Bald kommt es dann aber zum Bauerntanz und damit zum ersten von vielen Auftritten, in denen sich der Chor und der Kinderchor des Opernhauses (Einstudierung: Jürg Hämmerli) sowie der von Fritz Näf vorbereitete Schweizer Kammerchor bewähren. «La Damnation de Faust« ist auch ein veritables Chorstück, und diesem Aspekt bleibt die Zürcher Produktion nichts schuldig.
Der zweite von insgesamt vier Teilen zeigt Faust in der Studierstube, bringt seine Entrückung durch den Osterhymnus - und führt Méphistophélès ein, der fortan das Geschehen bestimmt. Mit kernigem Bariton und szenisch sehr präsent offenbart sich Egils Silins als der Drahtzieher, der dem in seinen Träumen befangenen Faust die Erfüllung seiner Wünsche vorgaukelt und dabei leise seine zerstörerische Kraft wirken lässt. Erst kommt zwar noch Brander (Philippe Duminy), der in Auerbachs Keller seine Geschichte von der vergifteten Ratte zum Besten gibt, doch dann setzt Méphistophélès zu dem blendend vorgetragenen Chanson über den Floh an, der zum Minister wurde. Nicht ganz die Höhe der Produktion hält Liliana Nikiteanu in der Partie der Marguerite. In der Ballade über den «König von Thule« bleibt sie seltsam unbestimmt; von der gelösten Expressivität, die Vesselina Kasarova letztes Jahr in Salzburg erzielte, ist da keine Spur. Bewegend gestaltet sie dagegen die Romanze der Marguerite am Anfang des vierten Teils - mag sein, dass sich die Sängerin im Verlauf der Aufführungsserie weitere Horizonte erschliesst.