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Sigfried Schibli 

Ein «Rheingold» ohne Rhein und ohne Gold

Auftakt zum neuen «Ring des Nibelungen»
am Opernhaus Zürich

Basler Zeitung

 

«Das Rheingold», der «Vorabend» zum «Ring des Nibelungen» von Richard Wagner, ist mit rund zweieinhalb Stunden Spieldauer nicht nur bei weitem der kürzeste, sondern auch der zugänglichste der vier Tetralogie-Teile. Geht es da doch um so vertraute Dinge wie das universelle Besitzstreben und eine alle Stände umfassende Raffgier, um alltägliche kriminelle Handlungen wie Menschenraub zum Zwecke der Erpressung sowie um die industrielle Produktion von Tarnkappen, die sich dem sozialkritischem Blick von George Bernard Shaw einst als «Zylinder» entpuppten, «der den Menschen als Aktionär unsichtbar macht und ihn die verschiedensten Gestalten annehmen lässt».
Nicht weniger als vier Mal wechselt der Ring, der ebenso begehrte wie verfluchte, im «Rheingold» den Besitzer - ein hübsches Symbol für die heute noch und gerade wieder beliebte Methode, ohne Arbeit reich und durchs pure Besitzen immer reicher zu werden. Den leichtfertig spielenden Rheintöchtern wird das Glitzerding vom grimmen Alberich geraubt, dieser verliert es aus Dummheit an den schlauen Wotan, der den Ring aber zwecks Loslösung seiner Schwägerin Freia den beiden Arbeitsriesen überlassen muss, die schliesslich um den güldenen Reif in einen Streit geraten, aus dem Fafner als Sieger, Fasolt dagegen als Leiche hervorgeht.
 

Die Erotik der Schneiderbüste

 

Allein, derlei Märchenepisoden interessieren den Regisseur des neuen Zürcher «Rings» nur sehr bedingt. Der texanische Multimedia-Künstler, Designer und Dekorateur Robert Wilson geht auch hier als Regisseur und Bühnenbildner aufs ästhetische Ganze und abstrahiert, was das Zeug hält. Zu Beginn steigen aus dem Trockeneisdampf drei spitzköpfige Frauengestalten auf, die eher an steife Schneiderbüsten denn an lockende Fischweiber erinnern, aber aus dem Text klar als Rheintöchter zu identifizieren sind. Am Ende dürfen sie gar nicht mehr auf die Bühne, sondern müssen ihr «Traulich und treu / ists nur in der Tiefe» aus dem Off trällern. Der nett als «schwarzes, schwieliges Schwefelgezwerg» begrüsste Alberich taucht als zweidimensionale Schattenfigur am Bühnenhintergrund auf, unfreiwillig einem der drei Tintenbuben aus dem «Struwwelpeter» ähnelnd. Mit diesen teilt Alberich auch die Spreizfinger, die zu einem Markenzeichen der Inszenierung werden, vor allem für Wotan, der seinen Speer so fingerspreizend in der Hand hält, als hätte er Schwimmhäute. Sollte auch er des Rheines Tiefen entsprungen, sollte auch Wotan von halber Tiernatur sein?
 

Das Tempo der Zeitlupe

 

Nicht doch, in Robert Wilsons ebenso symbolgesättigter wie anämischer Darstellung zeichnet Wotan wie auch Gattin Fricka und Schwester Freia ein am Hinterkopf befestigtes viereckiges Schild als von höherer Abkunft aus; der Schlauigkeits-Gott Loge hat das Brett hinterm Kopf nicht, das unterirdisch («Nibelheim») werkende Brüderpaar Alberich und Mime auch nicht, wohl aber, und das stört ein wenig unsere Hypothese vom Brett als Götter-Insignie, verfügen auch die beiden wirklich riesigen Riesen über ein logischerweise riesiges Brett. So what? Dass Wilson mit dem Kopfputz an jene Tipp-Kick-Figuren erinnern will, mit denen wir einst mit unseren Vätern den Fussballplatz in die Wohnstube beförderten, ist schwerlich anzunehmen. Denn deren durch Kopf-Knopfdruck ausgelöste Beinbewegung ist bekanntlich von erstaunlich rasender Geschwindigkeit, während Herrn Wilsons Figuren erstens gar keine Beine zu haben scheinen, denn sie stecken allesamt in von Frida Parmeggiani entworfenen seidenen langen Gehkleidern, die den Unterleib bis zu den Füssen verbergen - es herrscht Triebverzicht -, und zweitens bewegen sie sich mit jener zeremoniellen Langsamkeit, die längst zu einem Erkennungszeichen der Wilson'schen Bühnenästhetik geworden ist.
Wo Liebesverbot ist, liegt meist auch Berührungsverzicht nahe. Sogar der Mord Fafners an Fasolt ereignet sich durch eine knappe ruckartige Armbewegung, die den Mitriesen wie durch einen unsichtbaren Laserstrahl getroffen fallen lässt. Freia wird von den Riesen ebenfalls ohne handgreiflichen Kraftaufwand in ihre Gewalt gebracht, und Gott Loge erzielt mit einer schnippenden Handbewegung auf magische Weise die erstaunlichsten Wirkungen. Ein Magier scheint auch Gott Wotan zu sein (Speer = Zauberstab!), allerdings einer, dessen Zauberkraft nur durch üble Tricks aufrecht zu erhalten ist, unter anderem durch die Empfehlung seines Chefberaters Loge, er solle doch dem Dieb Alberich das, was jener allerdings nicht Wotan, sondern den Rheintöchtern geklaut hat, einfach zurückstehlen, den Ring. Arme Moral! Das Zürcher «Rheingold» erzählt die Geschichte vom verflixten Ring-Ding sehr abgekürzt: Die schöne Episode um die Gold-Anhäufung um Freia ist vollkommen abstrakt behandelt, ebenso sehen wir keinen Regenbogen, auf dem die Götter am Ende ihrer Burg zusteuern, sondern nur zweimal eine gelbliche Lichtprojektion als Apfel-Ersatz. Bedenklicher ist, dass Wilsons Erzählung insgesamt von geringer Aussagekraft ist und die Figuren nicht in ihren Charakteren reichhaltig zeigt, sondern sie einander annähert und damit anonymisiert. Das Soziale scheint Wilson ebenso wenig zu interessieren wie etwelche geschichtliche Spuren im «Ring». Das Auge schwelgt, aber das Hirn lechzt nach mehr Erkenntnis.
 

Der Virus der Langsamkeit

 

Wilson musste für seine langweilig-dekorative Arbeit etliche Premieren-Buhs einstecken, während das Sängerpersonal und der Dirigent fast einhellig bejubelt wurden. Zumindest letzteres wirkte etwas übertrieben, lieferte Franz Welser-Möst mit dem Zürcher Opernhaus-Orchester doch einen durchaus soliden, in der Dynamik gut gestaffelten Wagner mit exzellentem Blech, aber auch mit stark gedehnten Tempi und einer pedantischen Zeitlupen-Optik, wie wenn er sich von Wilsons Langsamkeits-Virus hätte anstecken lassen. Unter den Sängern gefielen am besten die stimmlich ungemein markante Fricka von Cornelia Kallisch (die sich freilich Wilsons Bewegungs-Askese nur teilweise unterwarf), der höchst charakteristische Mime-Tenor von Volker Vogel, der ungewöhnlich textverständliche Alberich von Rolf Haunstein und der mit schönem Material und sauberer Intonation aufwartende Loge von Francisco Araiza. Der finnische Bass Jukka Rasilainen in der tragenden Partie des einäugigen Wotan hatte sehr unterschiedliche Momente, ebenso die Riesen und die Rheintöchter. Jetzt heisst es warten, denn «Die Walküre» folgt in typisch Wilson'scher Zeitstreckung erst am 27. Mai 2001.