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Franz Welser-Möst

   

 

Franz Welser-Möst über den Zürcher «Ring» und das Wagner-Dirigieren im allgemeinen

Die Hand am Ohr

Zu Ende geschmiedet Richard Wagners «Ring» am Zürcher Opernhaus. Viel Entzücken, aber auch einige Entrüstung über Robert Wilsons privatästhetische Bewegungs- und Bildersprache – eine provokative Abwendung vom abbildhaft realistischen Musiktheater, die sich indes als reine Zuwendung zur Musik erwies. Und dort hängt der Himmel voller Geigen.

 

Werner Pfister


 




M&T: «Götterdämmerung» ist die siebte Wagner-Oper, die Sie am Zürcher Opernhaus betreuen. Was macht, alles in allem, den kompetenten Wagner-Dirigenten aus?

 

FRANZ WELSER-MÖST: Das Erkennen der musikalischen Architektur. Wagner hat für sich eine ganz eigene Architektur erfunden; man nennt das musikalisch-dichterische Perioden. Diese muss man als Dirigent genau kennen und analysieren – sonst kämpft man sich in der Partitur hilflos von Seite zu Seite.

 

 

M&T: Wie gross sind diese Perioden?

FRANZ WELSER-MÖST: Das ist unterschiedlich, manchmal bis zu 600 oder 700 Takte, manchmal auch nur 40 Takte. Sie hängen mit Wagners Kompositionsweise zusammen: Er hat bekanntlich nur Akkorde am Klavier angeschlagen, er hat nie eine Melodie gespielt. Für ihn ging es ausschliesslich um die harmonische Struktur, und so lang sich eine musikalisch-dichterische Periode auf eine spezifische Tonart beziehen lässt, handelt es sich um dieselbe Periode. Die nächste Periode folgt erst, wenn sich die Musik auf einen neuen harmonischen Bereich bezieht.

M&T: Demnach ist die ganze Bewegungsdynamik in Wagners Musik durch diese Strukturen vorgegeben.

FRANZ WELSER-MÖST: So ist es. Und es spielt, wenn Sie diese Strukturen kennen, keine so grosse Rolle, ob Sie das Tempo etwas schneller oder langsamer nehmen. Tempovorschriften von Komponisten sind eh immer mit etwas Vorsicht zu befolgen, denn ein Komponist denkt schneller, als ein Publikum hören kann. Im Kopf können Sie wesentlich schneller hören als im akustischen Raum. Zudem sind Tempi stets auch von den Sängern abhängig, die man zur Verfügung hat. Wenn man ein Tempo nur aus dem Orchesterklang entwickelt, aus einem Orchester von vielleicht hundert Musikern, dann kann man es irrsinnig verbreitern. Ein einzelner Sänger aber kann das nicht. So versuche ich stets, aus dem gesungenen Text heraus die Tempi zu finden, so dass klar wird, wie Text und Musik ineinander gehen.

M&T: Das Primat der Singstimme, von der aus Sie alles entwickeln?

FRANZ WELSER-MÖST: Absolut. Und vergessen Sie nicht: Wagner hat immer wieder nach italienischen Stimmen verlangt. Bei Wagner muss man das musikalische Konzept stets aus dem Gesang heraus entwickeln.

M&T: Apropos Gesang: Macht es, in unserer Zeit der vielbeschworenen «Krise des Wagner-Gesangs», überhaupt Sinn, einen integralen «Ring» aufzuführen, wo man die wirklich kompetenten Sänger dafür doch nicht mehr hat?

FRANZ WELSER-MÖST: An dieser Krise sind wir Dirigenten leider sehr oft mitschuldig mit unserer Rücksichtslosigkeit den Sängern gegenüber – rücksichtslos in Bezug auf die Orchesterlautstärke, aber auch bei der Tempowahl. Wenn der erste Akt «Parsifal», wie in Bayreuth gehabt, zwei Stunden und zehn Minuten dauert, dann stimmt etwas nicht. Oder wenn beim «Siegfried» die Aufführungsdauer sich von der ersten zur zweiten Vorstellung um vierzig Minuten ändert. Das ist eine Zumutung für die Sänger; da hängt szenisch dann plötzlich alles durch, und es gibt nurmehr Löcher.


M&T: Waren die Dirigenten früher sängerfreundlicher?

FRANZ WELSER-MÖST: Ich glaube, es war Franz Schalk, der, als er «Elektra» einstudierte, einige instrumentale Retuschen vornahm. Strauss verwehrte sich zuerst brieflich dagegen, doch als er zu den Proben kam, sagte er zu Schalk: «Sie haben leider recht.» Wir leiden heute im Opernbetrieb darunter, dass es zuwenig Dirigenten gibt, die sich wirklich um die Sänger kümmern. Wenn man es sogar in Bayreuth – mit dem überdeckten Orchestergraben – schafft, die Sänger zuzudecken, dann stimmt etwas nicht. Dasselbe gilt für die Tempowahl: Richard Wagner hat selber einmal einen Durchlauf von «Rheingold» dirigiert. Er brauchte dafür knapp zwei Stunden; in Bayreuth kam man auf über drei…

M&T: Warum werden die Wagner-Dirigenten heute immer langsamer?

FRANZ WELSER-MÖST: Weil die Versuchung so wahnsinnig gross ist, sich bei dieser Musik auszubaden. Zudem, aber das ist eine rein persönliche Spekulation, ist es möglicherweise auch eine Reaktion auf unsere hektische Zeit. Denn wenn Sie innerlich ein Zentrum haben, wenn Sie in sich ruhen, wie man so sagt, dann können Sie einen ruhigen Zeitfluss so vorgeben, dass er, objektiv gemessen, schneller ist und trotzdem ruhig wirkt.

M&T: Genau diesen Eindruck gewann man von Ihren Wagner-Interpretationen am Zürcher Opernhaus: leicht im Klang und flüssig in der Bewegung. Dennoch, ist das Zürcher Opernhaus – von den räumlichen und akustischen Voraussetzungen her beurteilt – nicht zu klein für so gross besetzte Werke wie Wagners «Ring»?

FRANZ WELSER-MÖST: Grundsätzlich glaube ich, dass es auch in einem Opernhaus mit den beschränkten Verhältnissen, wie sie in Zürich nun einmal vorgegeben sind, möglich ist, Wagner so aufzuführen, dass einem die Ohren nicht abfallen. Nur erfordert das vom Orchester unglaublich viel Disziplin. Wie einfach wäre es, wenn man unbekümmert so ordentlich «hinlangen» könnte. Schritt für Schritt, vom «Parsifal» über den «Tristan» zu «Tannhäuser», haben wir gelernt, mit dem Haus akustisch umzugehen. Und bei den Proben zur ersten Szene von «Rheingold» haben wir gemerkt, dass das musikalisch gesehen ein reines Kammerspiel ist.

M&T: Wie erreichen Sie diese kammermusikalische Transparenz im dicht gepanzerten Wagner-Orchester?

FRANZ WELSER-MÖST: Indem ich dem Orchester immer wieder sage, dass wir auf die dynamische Palette achten müssen. Wir können ja nicht von den acht vorgeschriebenen Hörnern einfach vier weglassen. Intelligentes Musizieren besteht darin, dass jeder Orchestermusiker auf den andern hört. Beispielsweise steht im Part des ersten Flötisten ein Piano. Hier helfen ihm nur seine eigenen Ohren: Er muss wissen, ob er an dieser Stelle ein Solo hat oder ob noch andere Instrumente ebenso wichtig sind. Ist das Piano solistisch? Muss er sich einordnen? Wem muss er sich unterordnen? Das sind die Grundfragen des Musizierens. Wer mir in der Vorstellung zuschaut, wird vielleicht bemerken, dass ich manchmal mit einer Hand ans Ohr greife. Dann wissen die Orchestermusiker sofort, dass sie den Sängern auf der Bühne zuhören müssen. Zudem habe ich als Dirigent rein akustisch gesehen einen schlechten Platz. Falls man die Sänger nicht mehr hört, bin ich der erste, der sie nicht mehr hört. Und Regisseur Robert Wilson macht es uns in dieser Beziehung nicht immer leicht, weil er die Sänger manchmal sehr weit hinten auf der Bühne agieren lässt.

M&T: Kommt hinzu, dass diese Bühne leer geräumt ist, was die akustischen Verhältnisse noch schwieriger macht.

FRANZ WELSER-MÖST: Genau. Aber wir sind dazu da, um mit diesen Problemen fertig zu werden. Das hat sehr viel mit spieltechnischer Präzision zu tun. Je präziser man spielt, desto transparenter wird der Klang, weil alles haargenau plaziert und gegeneinander abgegrenzt ist. Wobei Präzision nicht heisst, dass man schneidend hart spielt; das hat überhaupt nichts miteinander zu tun. Man kann unglaublich schön und subtil spielen und trotzdem äusserst genau.

M&T: Nun sind ja die einzelnen «Ring»-Opern recht unterschiedlich, was ihre musikalische Struktur anbelangt.

FRANZ WELSER-MÖST: «Rheingold» ist weniger sinfonisch als die anschliessenden «Ring»-Abende, mehr musikalisches Kammerspiel, was für das Orchester übrigens nicht leicht ist. Im Vergleich dazu spielt sich die «Walküre» gleichsam von selbst; da müssen Sie schon sehr unbegabt sein, um diese Oper langweilig zu machen.

 

 


Franz Welser-Möst: «Meine Welt ist immer die runde, die gesangliche».

 

M&T: «Götterdämmerung» ist, vom musikalischen Anspruch her betrachtet, die pathetischste und pompöseste «Ring»-Oper. Sprengt sie nicht definitiv den akustischen Rahmen des Opernhauses?

FRANZ WELSER-MÖST: Das grosse Problem ist, dass die Blechbläser schön und kantabel spielen. Denn was laut wirkt oder laut ist, das ist die Aggressivität im Klang und in der Attacke.

 

 

M&T: Aber diese Aggressivität gehört doch zur «Götterdämmerung»!

 

FRANZ WELSER-MÖST: Sie meinen die beiden Schläge im «Trauermarsch»? Die kann man entweder mit unglaublich viel Gewicht oder aber messerscharf spielen – das sind zwei vollkommen verschiedene musikalische Welten. Meine Welt ist immer die runde, die gesangliche. Nehmen Sie als Vergleich die sprachliche Artikulation: Ein «t» können Sie derart messerscharf artikulieren, so dass Sie dem Gegenüber ins Gesicht spucken. Aber man kann es auch schön und dennoch deutlich aussprechen, das geht. Sich solcher Unterschiede bewusst zu werden war die grosse Arbeit an der «Götterdämmerung». Und ich glaube, dass wir das bereits beim «Siegfried» ziemlich gut hingekriegt haben. Das betrifft ja nicht nur die Orchestermusiker, sondern auch die Sänger. Unser Wotan, Jukka Rasilainen, hat den «Ring» vorgängig in Paris gesungen, wo ihm der Dirigent sagte, in diesem Haus gebe es kein Piano. Was aber tut ein Sänger, wenn er einen Opernabend lang um sein Leben brüllen muss? Dass die Stimme das nur für eine begrenzte Zeitspanne aushält, versteht sich von selbst. Zudem, je lauter jemand singt, desto mehr verliert er die Diktion. Nach der ersten Orchestersitzprobe zu «Rheingold» kam Rasilainen zu mir und sagte: «Jetzt glaube ich Ihnen, dass ich hier Piano singen darf.» Anschliessend, während der Bühnenorchesterproben, nahm er sich mehr und mehr zurück und differenzierte gleichzeitig umso mehr. Das erfordert von einem Sänger allein rein intellektuell unglaublich viel. Wagner muss so gespielt werden, dass er die akustischen Grenzen des Hauses nicht sprengt. Wobei das nicht nur mit reiner Lautstärke zu tun hat; wichtiger ist, dass der Klang nicht scheppert oder schnittig wird. Lesen Sie in den alten Büchern über Musikästhetik nach. Stets heisst es dort, dass man beim Musizieren die Schönheit suchen soll, dass man die menschliche Stimme nachahmen soll.

 

 


Franz-Welser-Möst über Robert Wilson: «Die Szene fokussiert alles auf die Musik.»

M&T: Um ein anderes Thema aufzugreifen: Wie stehen Sie zur Inszenierung, die Robert Wilson dem Zürcher «Ring» verpasst hat?

 

FRANZ WELSER-MÖST: Beim «Rheingold» gab es in einer Bühnenorchesterprobe jenen Moment, wo ich plötzlich merkte, dass wir Orchestermusiker gleichsam unter einer Lupe sitzen. Die Szene – oder die «Nicht-Szene», wenn Sie wollen – fokussiert alles auf die Musik. Und das ist wahnsinnig heikel.

 

M&T: Heikel, aber gleichzeitig doch auch wunderbar! Davon können andere Dirigenten nur träumen, dass ein Regisseur so inszeniert, dass sich die Bühne ganz auf die Musik konzentriert!

FRANZ WELSER-MÖST: Das war auch ungeheuer spannend. Das eigentliche Geheimnis liegt darin, dass die Statik, die Wilson verlangt, den Sängern in musikalischer Hinsicht in keiner Weise hilft. Im Gegenteil, sie müssen alles aus sich selber entwickeln, respektive aus der Musik und aus dem Text – wie in einem Liederabend, wo man steht und singt und Gesten verpönt sind. Normalerweise helfen Handlungsgesten dem Opernsänger: Wenn er eine bestimmte Phrase singt und dazu eine hilfreiche Bewegung machen kann, dann kommt die Phrase entsprechend leicht heraus. Bei Wilson aber gibt es diese Handlungsgesten nicht. Für mich war das eine hochinteressante Erfahrung, die mich wahnsinnig herausgefordert hat.



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