Bruno Goetz

Erinnerungen an Busoni

[ROBERGE B523 e B415]

Traduzione in italiano

Verschiedene Aufgaben hatten mich für einige Zeit nach Zürich geführt. Da traf ich an einem schönen Maimorgen zufällig einen Bekannten, der mir vorschlug, die Generalprobe von Busonis »Turandot« und »Arlecchino« zu besuchen. Ich kannte damals noch nichts von Busonis Kompositionen, hatte ihn nur einige Wochen vorher in einem Konzert spielen gehört und war von der ätherisch-beschwingten, aller Erdenschwere baren Art seines Spiels tief beeindruckt worden. Mein Bekannter stellte mich Busoni vor. Er blickte rasch auf, sah mich einen Augenblick fest und scharf an und reichte mir die Hand. Ich schaute in ein verwittertes, edel geschnittenes Gesicht mit kühn und zart geschwungenen Lippen und grau funkelnden Augen; es war ein Gesicht, wie sie alte Holzbildwerke an gotischen Domen tragen - zeitfern und geistdurchglüht von einsamen Kämpfen, durchlittenen Qualen, heiterer Überwindung und gütiger Weltüberlegenheit zeugend.
Dann begaben wir uns in den dunklen Zuschauerraum. Und ich hörte zum ersten Male Busonische Musik. Dieses erstmalige Hören war ein entscheidendes Erlebnis für mich. Noch nie hatte ich eine derartige Musik vernommen. Sie war mir völlig neu und doch zugleich aufs innigste vertraut. Sie gab mir schon durch ihr blosses Dasein Antwort auf tausend heimlich gestellte Fragen. Fern von der Entwicklung, die unsere Musik seit Beethoven und Wagner genommen, fern vom Ausdruck privater Wallungen und Leidenschaften, wurzelte sie in einer überpersönlichen Gesetzmässigkeit und lösste sich in ein freies, göttliches Spiel. Ein Neuland der Seele war musikalisch erobert und durch eine neue, gesteigerte und erweiterte Formensprache dem künstlerischen Kosmos eingegliedert worden. Dazu kam, dass ich mich, abgesehen vom rein Musikalischen, Werken gegenüber sah, die die «Vollendung der Kunstform der Oper» bedeuteten. Jenseits des in sich widerspruchsvollen, widermusikalischen neuen Musikdramas, jenseits der doch nur musikalisch ernstzunehmenden alten Oper, war hier ein in Ton, Wort, Gestalt und Gebärde einheitlicher Organismus geschaffen worden, in welchem die Musik nicht etwa die Worte illustrierte, oder die Worte gleichgültig in der Musik ertranken, sondern alle diese Elemente bildeten die gleichzeitig in Erscheinung tretenden, in sich selbständigen, aber aufeinander bezüglichen Auswirkungen einer Uridee. Aus dem Ganzen sprach ein so überlegener, schöpferischer Geist, dass ich entzückt das Theater verliess. Unter dem Eindruck dieses Erlebnisses schrieb ich einen kleinen Aufsatz Über die beiden Werke. Der Aufsatz geriet in Busonis Hände: ich wurde eingeladen, ihn zu besuchen, und war bald fast täglicher und Abendgast am berühmten runden Tisch.
Der runde Tisch... Wie viel hat sich an ihm abgespielt! Wie vielen ist er die einzige Zufluchtsstätte gewesen! Wie vielen hat er eine heilige Insel im Strudel der Zeit bedeutet! Wie viele entscheidende, aufwühlende, tiefsinnige und tröstliche Gespräche sind an ihm geführt, wie viel ist an ihm gescherzt, gelacht und getollt worden! Die Welt wurde in diesem engen Zimmer hoch und weit, und alle fühlten sich selbst hinausgehoben, gestärkt und erneuert. Wer in diesen Bannkreis geriet, wurde der Enge entrissen, zum Tun und Wirken angeregt. Man war wie in einem Flammenwirbel, der alle Kräfte aufs höchste anspannte.
Das Erstaunlichste war für mich zunächst die innere Haltung Busonis, die er den Zeitereignissen gegenüber einnahm, die vollkommene Freiheit und Unbeirrbarkeit seiner Gesinnung, die keinen Suggestionen und Schlagworten unterlag. Er vertrat das freie, schöpferische Menschentum, wusste sich als Glied einer durchaus nicht verwaschen internationalen, wohl aber übernationalen, im Volkshaften verwurzelten, doch ins Menschheitliche emporragenden Geistergemeinschaft. Er wusste, dass das Wort Heimat neben seiner gewöhnlichen, konkreten Bedeutung, die das Handeln des Einzelnen in vielem schicksalmässig bestimmt, noch eine andere Bedeutung hat: er war mit seinem Schaffen in der Heimat der grossen Künstler und Seher aller Völker und Zeiten zuhause und wusste die seelische Wirklichkeit dieser Heimat von aller ungeistigen Vermengung mit dem Hader und Zwist der übrigen Lebenssphäre rein zu halten. Er gehörte jener Heimat an, von der Gcethe sagt:

Es rufen von drüben
die Stimmen der Geister,
die Stimmen der Meister:
versäumt nicht zu üben
die Kräfte des Guten.
Dort winden sich Kronen
in ewiger Stille,
die werden mit Fülle
den Tätigen lohnen.
Wir heissen euch hoffen.
Die Heimat der Meister. Damit kommen wir züm innersten Kern von Busonis Persönlichkeit. Er, der allgemein als ein musikalischer Umstürzler und Revolutionär galt, der sich über alle Regeln, Konventionen und «Gesetze» des musikalischen Ausdrucks hinwegsetzte, rang in jedem Takte, den er hinschrieb, um letzte Meisterschaft. Er sagte mir einmal: «Was wollen Sie? Wer im Kampfe um das Neue und Unerhörte steht, schiesst auch über das Ziel hinaus. Doch das sind Experimente, und ein Experiment ist noch kein Werk. Im Werk muss alles gemeistert sein. Das heisst nicht abstrakte Gesetze befolgen. Das heisst, jenem besonderen Gesetze folgen, das jeglichem Tongebilde innewohnt. Wer das kann, ist ein Meister.» Und ein anderes Mal, als ich meiner Ergriffenheit über sein eben in Zürich aufgeführtes grosses Klavierkonzert mit MännerchorAusdruck gab, sagte er: «Das ist noch nichts. Das ist nur ein letzter Abschluss mit der Vergangenheit. Das ist noch zu zeitbefangen. Da sind nur ein paar Andeutungen davon drin, was ich anstrebe. Unsere Werke müssen wieder so einfach werden und zu gleicher Zeit so vieldeutig, so gross und streng, wie die Pyramiden. Solang das Neue noch mit Privatem vermengt wird, hat es keine Gültigkeit.»
Jene höchste Vollendung, jenes letzte Einssein von Form, Gehalt und Bedeutung erschütterte ihn, wenn er ihm in einem Kunstwerke begegnete, so tief, dass er in Tränen ausbrechen konnte, auch wenn es sich um etwas Heiteres handelte. Ich erinnere mich noch an einen bewegten Abend am runden Tisch in Zürich,als ihn tiefe Verzweiflung über das ganze Zeitgeschehen gepackt hatte. Es war lange und heftig gestritten worden und er hatte seiner Hoffnungslosigkeit in Bezug auf die nächste Zukunft Ausdruck verliehen. Wir schwiegen bedrückt. Da stand er auf, holte einen Band Geethe herbei und las uns die «Geheimnisse» vor, in einer Art, wie ich nie Goethe vorlesen gehört hatte: es war, als erhellte sich jeder Vers von innen her mit magischem Licht. Plötzlich hielt er mitten im Gedicht in einem der schönsten Verse inne und weinte. So sehr hatte ihn die vollendete Schönheit des Verses ergriffen.
Wie fast alle Menschen, die tief gelitten haben, liebte er es, sich scheinbar an einer heiteren Oberfläche zu bewegen. Aber hinter seinen funkelnden Spässen und Scherzen steckte immer ein seltsamer, verborgener Sinn und die Erfahrung eines überreichen, starken und hohen Lebens. Dieser so klare, freie, unabhängige Geist wusste sich ganz im Dämonischen, Unsagbaren, Dunkeln, Chaotischen verwurzelt. Aber es trieb ihn, die Dämonen zu bannen, dem Unsagbaren tönenden Ausdruck zu verleihen, das Dunkel zu erhellen und das Chaotische in ein freies, seliges Spiel aufzulösen. Er hasste das Herumwühlen in den ihm nur allzubekannten Untergründen der Seele, das Sich Gefallen im Dunkeln, Chaotischen, das formlose Ausschrei en des Innern. Es war ihm Ernst um das Teufelsbannen.
Er äusserte einmal in einem Gespräch über diese Dinge: «Nur das ist richtig beschworen, was in seinem eigentlichen Wesen erkannt, beim richtigen Namen genannt, in einer gegliederten Form dargestellt und ganz Gestalt geworden ist. Alles unklar und schlecht Geformte, alles, was nur so hingesagt oder hysterisch deklamiert ist, kommt mir unwahr vor. Denn wer wirklich von etwas ergriffen ist, dem gibt es keine Ruhe, bis er es gebannt hat, Was man nicht formen kann, davon schweigt man, oder lässt es die Kundigen hinter der Form erraten. Nur Schwätzer, nicht Künstler plaudern vorzeitig aus der Schule. Und Schwätzer sind langweilig.»